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Sonntag, 16. November 2008

Interrupt? Nein, danke! [OOP 2009]

Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen sein können:

Situation 1: Auf der Straße unterhalte ich mich mit einer Nachbarin. Die hat ihren 5-jährigen Sohn dabei. Nach 2-3 Minuten Plauderei ruft der plötzlich "Mama, Mama, ich würde gern...". Die Mutter daraufhin sofort: "Nicht jetzt! Ich unterhalte mich gerade. Gleich bin ich aber für dich wieder da."

Situation 2: Im Café sitzen neben mir zwei Frauen ins Gespräch vertieft. Da klingelt plötzlich das Handy der einen. Sie zögert nicht, nimmt ab und plaudert mit dem Anrufer mehrere Minuten. Die andere blättert derweil klaglos zur Überbrückung in einer Zeitschrift.

Situation 3: Während eines Beratungsauftrags sitze ich mit einem Entwickler über einem Architekturproblem in seinem Büro. Plötzlich geht die Tür auf und der Projektleiter fordert ihn auf, sofort einem Kollegen bei der Lösung einer Aufgabe zu helfen.

Hm... was haben diese Situationen gemeinsam? Da sind Menschen in etwas vertieft und es tritt eine plötzliche Störung durch einen Dritten ein.

Und was unterscheidet diese Situationen voneinander? Nur in einem Fall entscheiden sich die ins Gespräch vertieften zu einer Abwehr der Störung. Nur das Kind wird als Störenfried in seine Schranken verwiesen. Die Mutter macht ihm klar, dass es nicht jederzeit Zugriff auf sie hat, sondern darauf achten muss, ob Mutter gerade offen für eine Ansprache ist. Sieht es hingegen, dass Mutter anderweitig beschäftigt ist, soll es sich gedulden.

Daran ist grundsätzlich nichts auszusehen, würde ich sagen. Es ist höflich, nicht zu unterbrechen. Das sollte ein Kind lernen.

Wie ist solche Lehre aber zu vereinbaren mit dem Verhalten der beiden Frauen im Café? Sie lassen sich ganz einfach durch einen Anruf unterbrechen. Sie nehmen das nicht nur in Kauf, sondern provozieren es geradezu, indem sie ihre Handys angeschaltet lassen. Dass sie Ärztinnen oder Bestatterinnen sind, die jederzeit auf Abruf zu erreichen sein müssen, war allerdings nicht zu erkennen.

image Warum lassen sich erwachsene Frauen die Unterbrechung von einem Kind nicht gefallen, aber von jedem anderen, der noch nicht einmal anwesend ist? Hm... darüber kann man einen Moment nachdenken. Doch über die wahren Beweggründe für diese Unterbrechungstoleranz will ich hier gar nicht reden. Mir fiel angelegentlich dieser Situation nur die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf.

Denn der allgemeine Anspruch ist ja, dass man nicht gestört werde, wenn man in etwas vertieft ist. So lautet die pädagogische Reaktion der Mutter. Auf der anderen Seite tolerieren oder provozieren wir jedoch die Unterbrechung. Im privaten Umfeld mag das auch unproblematisch sein. Im geschäftlichen jedoch wird das schnell teuer.

Wissensarbeit wie in Situation braucht nämlich eines: Konzentration. Um gute Wissensarbeit - und nichts anderes ist Softwareentwicklung - leisten zu können, müssen sie sich fokussieren können. Sie brauchen Störungsfreiheit. Entwickler durch "Chefanfragen" immer wieder in ihrer Arbeit zu unterbrechen, ist daher kontraproduktiv. Sie müssen ihren Fokus verlassen und später wieder aufbauen. 15min "Umschaltzeit" sind dabei durchaus keine Seltenheit.

Im Grunde wissen das auch alle vom Wissensarbeiter bis zum Top-Manager. Multitasking funktioniert nur sehr begrenzt. Dennoch verhalten sie sich aber alle anders.

Obige Situation 2 hat mir nun klar gemacht, woran das liegt. Das Unterbrechungsproblem in der Arbeitswelt kann nicht besser werden, solange wir es nicht konsequent umfassend angehen. Wer sich im privaten Bereich gern unterbrechen lässt, das Handy immer auf Empfang hat und verständnisvoll-verzeihend nickt, wenn andere angerufen werden, der darf sich nicht wundern, wenn am Arbeitsplatz auch immer wieder unterbrochen wird.

Die Gründe für solche Ambivalenz mögen verständlich sein. An den weitreichenden Auswirkungen der Ambivalenz ändert das jedoch nichts. Wer sich einem Kind gegenüber die Unterbrechung verbittet, sie aber im Freundeskreis toleriert oder gar erwartet, darf sich nicht wundern, wenn er dann am Arbeitsplatz keine "produktive Unterbrechungskultur" etablieren kann.

image Ich möchte nicht ohne Handy, SMS, Email, IM usw. leben. Aber wichtiger als diese Medien ist mir immer noch mein Fokus. Und so habe ich kein Verständnis mehr für Unterbrechungswilligkeit. Ich schalte (spätestens ab heute) meine "Unterbrechungsmedien" ab, wenn ich im Gespräch bin. Und ich werde sonstige Unterbrecher höflich, aber bestimmt auf die Kontraproduktivität ihrer Unterbrechung hinweisen. Kinder und Manager machen da für mich keinen Unterschied. Das halte ich vielmehr für eine Grundlage höflichen und respektvollen Umgangs miteinander.

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Ralf,
Du sprichst mir wirklich aus der Seele. Mir fällt es immer wieder auf, dass sich in Besprechungen viele Kollegen durch ihr Handy unterbrechen lassen. Wenn mir, als Teilnehmer dieses Meetings, dadurch wertvolle Zeit verloren geht, finde ich das unpassend und respektlos.

Bernd

Anonym hat gesagt…

Fast noch schlimmer finde ich folgendes Szenario: Wir besprechen ein fachliches Thema und das Telefon klingelt.
Gut, das Telefon klingelt, laut Klingelton intern, es kann also kein Kunde sein und wir reden. Also lasse ich es klingeln.
Und dann meint mein Gesprächspartner, warum ich nicht ans Telefon gehe...

Manchen (nicht allen) geht wenigstens ein Licht auf wenn ich dann sage, dass wir doch gerade in einer Besprechung sind.

Martin

Anonym hat gesagt…

Hallo Ralf,

die weitergehende Frage, die ich mir stelle ist, warum das in der heutigen Zeit so teilweise extreme Ausmaße annimmt. Aus meiner Sicht gibt es 2 Gründe dafür.

1. Hat die Technik in den letzten 10 Jahren vieles ermöglicht was das Verhalten generell beinflusst. So war die Erfindung des Mobile Phone nur der erste Schritt auf einem Weg zur dauerhaften Vernetzung, so wie man sie heute erlebt.

2. Viele Menschen haben im Zuge der Entwicklung verlernt mit der oben genannten Technik auch richtig umzugehen. Nur weil ich immer und überall erreichbar sein kann, heisst das meiner Meinung nach nicht, dass man es auch sein muss.

Und der Trend nimmt hier noch zu: Denkt man am Internet im ICE, Handys im Flugzeug, dann erkennt man dass selbst auch die letzten Domainen des "Nicht-Instant Erreichtwerden-Könnens" fallen werden. Ich zum Beispiel finde es immer sehr amüsant (und gleichermassen traurig), wie es schon fast zur Volksgewohnheit (Krankheit?) geworden ist, dass im Flugzeug nach der Landung nach Erlöschen des Anschnallzeichens sämtliche Handys eingeschaltet werden...

P.S: Im Übrigen gehören aufpoppende RSS Einträge zu der selben Art von Arbeitsunterbrechungen :)

Rainer hat gesagt…

Hallo Ralf,

unsere Gesellschaft macht vieles anders als unsere richtig erziehenden Mütter. Im Kern steht der Kunde und damit meiner Meinung nach der Profit. Kurzfristig gesehen ist dann die Unterbrechen ok. Doch zu welchem Preis. Das hast du schön angeführt.

Ich halte solche Unterbrechung auch für nicht akzeptabel, aber wie können wir unsere Vorgesetzen erziehen, es richtig zu tun, falls ein solcher Fall doch einmal eintritt?

Da kommt mir Scrum als Gedanke in den Sinn. Hier wird ein Commitment zwischen beiden Parteien getroffen. Innerhalb der nächste 4 Wochen wird dieser Sprint-backlog abgearbeitet. Dafür darfst du uns aber nicht stören und neue Sachen einbringen ...

Schön wenn es immer so funktionieren würde. Ich bin auch kurz davor nur noch zu kommunikatinoswilligen Zeiten meine "neumodischen" Medien auf ON zu schalten.

Meiner Meinung nach ist das auch ein Problem unserer mittlerweile viel-zu-schnelllebigen Gesellschaft. Immer Mehr, immer Mehr. Wann immer und wo auch immer.

Aber ich denke das liegt auch daran, dass die "Gestörten" diesen zustand tollerieren, da sie eben nicht höflich darauf hinweisen unterbrochen worden zu sein. Traut sich der Angestellte oder BusinessPartner, seinem Vorgesetzten/Kunden zu widersprechen?

Grüße,
Rainer

Ralf Westphal - One Man Think Tank hat gesagt…

@Sebastian: ad 2.: Klar, nur weil man erreichbar sein kann, muss es auch nicht. Aber so ist es eben mit allem Neuen: Erstmal nutzt man es entfesselt (z.B. Typographie nach Aufkommen von DTP/WYSIWYG), dann entwickelt sich eine Kultur. Für mich gehört dazu, dass ich bewusst an/abschalte.

Dabei finde ich es aber gut, dass ich mich eben auch im ICE oder Flugzeug verbinden kann, wenn ich will. Das ist jedoch Pull. Wenn mich jmd kontaktiert, ist das Push.

Ich will Pull und Push mit der Option, an/abzuschalten. Selbststeuerung also, nicht Fremdsteuerung durch Unterbrecher. Deshalb sage ich auch jedem: Du kannst mir immer eine Email schreiben - aber bitte eher nicht anrufen.

RSS halte ich aber nicht für eine Unterbrechung. Da poppt nix auf.

@Rainer: Hm... wie können wir Vorgesetzte "erziehen", nicht immer wieder zu unterbrechen?

Ich denke, das muss damit anfangen, dass eben 1. nicht der ganze Fokus auf dem Kunden liegt und 2. Profit nicht alles ist.

Wenn sich nämlich alles auf Kunde und Profit konzentriert (aha, manchmal geht es also mit der Konzentration noch ;-), dann bleibt der Mensch, der etwas leistet, schnell auf der Strecke. Und die Qualität der Leistung womöglich auch.

Also beginnt alles mit einer Umwertung der Werte. (Nietzsche lässt grüßen ;-)

Wie schon öfter gefragt: Wenn der Kunde König ist, was bist du dann?

Geld und Leistung stehen in keinem hierarchischen Verhältnis, wie die "Kunde = König" Gleichung suggeriert. Geld und Leistung sind per definitionem gleichwertig. Deshalb ist der Kunde auch nicht wichtiger als der Dienstleister - und umgekehrt.

Was aber nun tun mit dem Vorgesetzten? Solange er nicht in der Tür steht, einfach die Kommunikationskanäle kappen, wenn Konzentration nötig. Outlook schließen, IM ausstellen, Handy aus, Telefon aus.

Und die Tür? Abschließen ist schwer möglich. Alternativen: Sich für die Konzentrationsphase unauffindbar machen. "Bitte nicht stören"-Schild an die Tür. Oder, wenn die Tür aufgeht, höflich aber bestimmt klar machen, dass das als Störung empfunden wird.

Zu solcher Klarstellung gehört, abzufragen, ob es um Leben und Tod geht. Und natürlich das Versprechen, sich nach der Konzentrationsphase aktiv zu melden, um die dringende Sache zu besprechen.

Wer sich solche Konzentrationsfreiräume schaffen will, kann das ja auch ankündigen. Begründen und um Verständnis/Kooperation bitten - im Sinne höherer Qualität.

Vor allem: Incentives wie einen Blackberry kategorisch ablehnen! ;-) Barak Obama mag nicht ohne leben wollen. Ich schon :-)

Also: nur Mut!

-Ralf

Anonym hat gesagt…

Ich habe dazu eine interessante Studie gefunden. Die wirst Du vielleicht sogar kennen.

Die Zukunft des Internets, Seite 6:

Few lines divide professional time from personal time, and that’s OK. In
2020, well-connected knowledge workers in more-developed nations have
willingly eliminated the industrial-age boundaries between work hours and
personal time. Outside of formally scheduled activities, work and play are
seamlessly integrated in most of these workers’ lives. This is a net-positive for
people. They blend personal/professional duties wherever they happen to be when
they are called upon to perform them—from their homes, the gym, the mall, a
library, and possibly even their company’s communal meeting space, which may
exist in a new virtual-reality format.


56 zu 29 Prozent der Experten stimmen dem zu.