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Samstag, 10. Oktober 2015

Gelebte inkrementelle Dekomposition

Neulich war große Freude. Ein Produktentwicklungsteam eines Kunden zeigte mir, wie es meinen Vorschlag eines anderen Umgangs mit Anforderungen umsetzt - und dadurch flüssiger arbeitet.

Inkrementelle Dekomposition

Mein Vorschlag war und ist, Anforderungen des Kunden bzw. die User Stories eines Product Owners nach einem Schema “zu zermahlen”, um für die weitere Entwicklung sehr präzise Ausgangspunkte zu bekommen.

Ausführlicher habe ich dieses Schema in einem früheren Artikel beschrieben. Deshalb skizziere ich es hier nur noch und stelle es in einen Prozesszusammenhang.

Für mich sieht ein Teil des Softwareproduktionsprozesses so aus:

image

Ein Strom von unstrukturierten Anforderungen wird von einem Product Owner im Rahmen eines so genannten Story Development durchgekaut und in User Stories transformiert. Die sind klein, konkret, wertorientiert, priorisiert.

Allerdings sind User Stories rein aus der Sicht von Kunde/Anwender formuliert. Die Programmierung kann sie nicht einfach implementieren. Vielmehr muss darauf eine Vorverarbeitung stattfinden.

Entwickler (und Tester) sitzen dafür zunächst mit dem Product Owner zusammen und analysieren die User Stories. Bisher hat ja nur der Product Owner verstanden, was zu tun ist. Dieses Wissen muss in die Köpfe der Programmierer übertragen werden. Das bedeutet, die Welt des Problems muss an die Welt der Lösung angeschlossen werden. Es müssen Bezüge hergestellt werden, ein Mapping stattfinden.

Mit meinem Ansatz plädiere ich dafür, die User Stories “in einen Problemtrichter zu stopfen”, aus dem unten einzelne Funktionen mit zugehörigen Akzeptanzkriterien heraustropfen.

User Stories stellen die Anforderungen in Form von Inkrementen vor, d.h. für den Kunden wertvolle Zuwächse an Funktionalität oder Effizienz. Slices sind Inkremente mit konkretem Bezug zur Welt der Codierung, d.h. der Lösung.

Die Problemanalyse transformiert einen Strom von User Stories also in einen Strom von Slices unterschiedlicher Dicke. Hier die Liste der wichtigsten Slices mit den ihnen entsprechenden Programmierartefakten (Module):

  • Anwendung = Bibliothek
  • Dialog = Klasse
  • Interaktion = Funktion
  • Feature = Funktion

Jede User Story entspricht dann in der Hierarchie der Slices einem oder mehreren Pfaden der Form Anwendung/Dialog/Interaktion/Feature. Das ist für die weitere Programmierung sehr, sehr viel konkreter, als eine User Story. Die Programmierung fühlt sich auf diese Weise weniger allein gelassen mit Verständnis und Übersetzung von Anforderungen. Ja, die Programmierung bekommt durch die gemeinsame Problemanalyse mit dem Product Owner sogar schon konkrete Hinweise auf eine minimale Modularisierung des Codes. Und die spiegelt dann auch noch das agile Vorgehen wider.

Während üblicherweise User Stories nach der Implementation nicht mehr im Code zu erkennen sind, bleiben bei diesem Vorgehen Inkremente als Artefakte im Code erhalten. Das ist von unschätzbarem Wert für die Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit von Code.

Der ursprüngliche Strom von Anforderungen wird also in zwei Schritten zerlegt in Inkremente (inkrementelle Dekomposition):

  1. Story Development -> User Stories
  2. Problemanalyse -> Slices

Beide zusammen dienen der Qualitätssicherung des Input in die weitere Programmierung. Das ist wichtig, da einer der häufigsten Engpässe bei der Softwareproduktion die Implementation oder die anschließende QA ist. Hohe Inputqualität für den Engpass ist Voraussetzung für hohe Qualität seines Output. Und die ist wichtig, damit der Engpass später nicht mit Nachbesserungen belastet wird.

Soweit die Theorie. Jetzt die Praxis.

Im realen Projekt

Als Trainer in Sachen flüssige Softwareproduktion und Clean Code Development stelle ich diese Vorgehensweise vielen, vielen Entwicklern vor. Wir üben sie dann tapfer in Workshops. Doch die Übertragung solcher “Theorie” in den Arbeitsalltag fällt den Teilnehmern immer wieder sehr schwer. Über die Gründe kann man diskutieren und lamentieren - aber nicht heute. Heute möchte ich zur Abwechslung zeigen, wie der Transfer eben auch klappen kann.

Das Team bei meinem Kunden besteht im Wesentlichen aus 2 Entwicklern, 3 Testern und 1 Product Owner. Beide Entwickler hatten an 2 Schulungstagen der Clean Code Developer School teilgenommen, an denen wir uns auf den Umgang mit Anforderungen konzentriert hatten. Dann am Ende des dritten Schulungstages luden sie mich ein, sich ihre Umsetzung des Lernstoffes in ihrem team room einmal anzusehen.

An der Wand sah ich dort diesen Notizenbaum:

image

Die Anwendung, an der das Team arbeitet, steht außer Frage. Die muss nicht explizit modelliert werden.

Der Dialog, auf den sich die (derzeit) zu realisierenden User Stories beziehen, steht ebenfalls außer Frage. Die ganze Wand konzentriert sich auf diesen Dialogentwurf:

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Aus diesem Grund ist der Dialog auch nicht an der Wand zu sehen. Das finde ich verständlich, aber meine Empfehlung ist, ihn dennoch dort ebenfalls zu visualisieren. Dadurch wird jedes Denken über Slices konkreter. Bei Diskussionen kann man leichter Bezug nehmen, um über Interaktionen und Features zu sprechen. Niemand muss im Zweifelsfall in irgendwelchen Dokumenten nach dem aktuellen Stand des Dialog-Layouts suchen.

Aber auch ohne Dialog finde ich die Darstellung an der Wand klasse. Dort sind nämlich die von mir vorgeschlagenen Slices systematisch als Baum zu sehen:

  • Quer über die Wand stehen grüne Karten für Interaktionen des Dialogs. Jede lässt sich einem Button oder dem Klick auf eine Liste usw. zuordnen.
  • Senkrecht stehen orange und gelbe für Features der jeweiligen Interaktion. Die Darstellung der Feature-Hierarchie ist an der Wand leider begrenzt. Mit Farben wurden zwei Ebenen unterschieden und es gibt eine gewisse physische Unterordnung. Letztlich kommt hier der Umgang mit Kärtchen aber an seine Grenzen. Doch das Team ist kreativ mit seinen Mitteln umgegangen. Super!

An diese Wand kann ich herantreten, eine beliebige Karten auswählen und bin sicher, dafür eine Entsprechung im Code zu finden. Da es sich um Interaktionen und Features handelt, gibt es für jede 1 Funktion im Code.

Das ist die Sicht der Entwickler. Gleichzeitig stellt jede Karte aber auch noch Wert für den Product Owner dar! Alle Karten repräsentieren Inkremente. Zu allen Karten kann der Product Owner Feedback geben, ob das gewünschte Verhalten schon nach seinem Geschmack umgesetzt wurde.

(Zu dieser Regel gibt es nur eine Ausnahme: Die zweite grüne Karte von Links steht nicht für eine Interaktion sondern für die Datenstruktur des Dialogs, d.h. für die Steuerelemente mit den zugehörigen Datentypen und einige Validationsregeln. Dass dies visualisiert wird, ist natürlich eine gute Sache. Doch ich empfehle eine deutliche Unterscheidung von den Slices, z.B. durch räumliche Trennung oder andere Farben.)

Diese Systematik zu sehen, hat mich schon begeistert. Doch das Team zeigte mir noch mehr. Es setzt nämlich auch meine Empfehlung um, einzelne Features dem Product Owner über einen Prüfstand zum Feedback vorzulegen.

Hier der Prüfstand für den Cluster von Features, den ich an der Wand hervorgehoben habe:

image

Der Product Owner (oder auch ein Tester) kann mit dem Prüfstand wie mit einer speziellen Messsonde gezielt einen kleinen Teil des Gesamtverhaltens prüfen, ohne die ganze Anwendung oder auch nur den ganzen Dialog zu bemühen.

Das macht erstens das Feedback einfacher. Zweitens wird der Product Owner damit frei, sich Features in quasi jeder beliebigen Reihenfolge zu wünschen. Und drittens können Features, Interaktionen, Dialoge nun viel einfacher parallel entwickelt werden.

Voraussetzung für den Prüfstand ist, dass Inkrement-Wünschen des Product Owners sehr konkrete Artefakte der Programmierung zugeordnet sind. Genau das leistet die inkrementelle Dekomposition mit der Herstellung von Slices jedoch.

Das Fazit von Entwicklern wie Testern sowie Product Owner bisher: die Softwareproduktion ist viel flüssiger geworden.

Darüber freue ich mich sehr! Und ich bin überrascht. Denn so eine pragmatische und zügige Umsetzung des in der CCD School vorgestellten Ansatzes hatte ich bisher noch nicht gesehen. Hier zeigt ein Team, was möglich ist, wenn man echt etwas verändern will. Die Initiative zweier motivierter Entwickler reichte aus, die anderen Teammitglieder waren offen für eine Veränderung und die Führungsebene darüber hat den Freiraum zu solcher Selbstorganisation gegeben.

Drei notwendige Faktoren sind bei diesem Kunden also glücklich zusammengekommen. Super!

Mehr Fluss, mehr Produktivität sind möglich mit systematischerer Softwareproduktion. Das so deutlich zu sehen, spornt mich an, nicht nachzulassen bei der Vermittlung von und Suche nach besseren Methoden.

Mittwoch, 9. September 2015

Vorschläge zur Messung von Agilität

Wann ist ein Team, eine Organisation agil? Gibt es mehr oder weniger Agilität? Das sind Fragen, die eigentlich jeden umtreiben müssten, der sich mit dem Thema Agilität beschäftigt, egal ob Enthusiast oder Skeptiker.

Was für mich den Kern von Agilität ausmacht, habe ich an anderer Stelle mal beschrieben. Darauf hat nun Volker Meurer mit einem interessanten Beitrag reagiert.

Volkers Idee, Agilität als einen Raum zu betrachten, der durch mehrere Dimensionen aufgespannt wird, finde ich anschaulich und hilfreich. Damit kommt Agilität aus der pseudowissenschaftlichen Ecke heraus, sie wird quantifizierbar(er).

Mit solchen Dimensionen würde Agilität besser greifbar. Es gäbe etwas zu messen – und das ist für jeden der bewusst seine Fähigkeiten verbessern will, immer eine gute Sache. Messungen geben Feedback über Fort- bzw. Rückschritt. Außerdem kann man sich damit Ziele setzen.

Agilität aus dem Manifest destilliert

Das Agile Manifest ist in seiner Beschreibung von Agilität schwammig; wann man agil ist, kann man nicht so genau wissen. “Individuals and interactions over processes and tools” usw.: das klingt gut, da ist eine Menge dran – aber hat man es denn schon realisiert? Ja, genau, real-isiert. Ist es schon real? Wie stellt man das für eine Organisation fest? Wie misst man das? Und ist es wichtig dafür, dass morgens alle im täglichen Standup-Chor singen? Muss man dafür Story Points schätzen?

Alles, was Scrum und XP – die beiden ursprünglichen agilen Vorgehensmodelle - vorschlagen sind nur, lediglich und nicht mehr als Mittel. Ebenso “customer collaboration” oder “individuals and interactions”. Alles nur Mittel. Aber zu welchem Zweck? Was soll durch mehr “individuals” denn “tools” erreicht werden?

Auch in meiner Beschreibung eines Kerns von Agilität habe ich vor allem Mittel genannt. Als Destillat stellten sie für mich Muster in Softwareproduktionen dar, die mir typisch für ein bestimmtes positives Gesamtverhalten, ein gutes Ergebnis schienen. Das kann man dann “agile Softwareproduktion” nennen; mir persönlich schmeckt “flüssige Softwareproduktion” allerdings besser. Doch beides sind wieder nur verkürzende Etiketten. Die Frage bleibt: Ja, was ist denn das, wofür Inkremente oder daily stand-ups oder Reflexion oder co-located teams usw. Mittel sind, es herzustellen?

Aus diesem kreiselnden Denken, aus der Gefahr des Cargo-Kults müssen wir endlich aussteigen. Wir müssen irgendeine Softwareproduktion herstellen, die was taugt. Wie die heißt, das ist egal. Also, worum gehts?

Worum geht es?

Unter einem Berg an gut gemeinten Mitteln finden sich im Agilen Manifest Hinweise. Hier die richtungsweisenden Begriffe in Reihenfolge der Fundstellen bei den Werten und den Prinzipien:

  • “Working software”
  • “responding to change”
  • “satisfy customer”
  • “welcome changing requirements”
  • “harness change for the customer’s competitive advantage”
  • “Deliver working software”
  • “Working software is the primary measure of progress”
  • “sustainable development”

Aus dieser Liste lässt sich herauslesen, wie damals die Welt der dysfunktionalen Softwareproduktion gesehen wurde. Und eben, was man daraus für Schlüsse für eine bessere Softwareproduktion gezogen hat:

  • Die Softwareentwicklung hat sich mehr um sich selbst als um den Kunden gedreht. Man war verstrickt in technische Belange. Materialien und Werkzeuge haben viel Energie absorbiert. Ob die Gründe dafür tatsächlich in einem Mangel an genügend leistungsfähiger Technologie lag oder eher in der Psyche der damaligen Softwareentwickler, sei dahingestellt. Jedenfalls rief das Manifest zu einem Umdenken auf. “Working software” (3 Nennungen) und Wert für den Kunden (“satisfy customer”, “customer’s competitive advantage”) sollten der Leitstern sein. Agil ist also, was qualitätsorientiert ist. Denn Qualität ist, wofür irgendwer bereit ist, Geld auszugeben.
  • Außerdem erschien die Softwareentwicklung damals als schwerfällig und starr. Die Erkenntnis war, dass sich Kundenwünsche schneller ändern als man darauf reagieren kann. Vielleicht, weil der Kunde tatsächlich neuen/anderen Bedarf hat; vielleicht, weil der Kunde zu Beginn der Entwicklung nicht genau wusste, was er wollte; vielleicht, weil er es wusste, aber nicht gut ausdrücken konnte; vielleicht, weil das Verständnis der Entwickler mangelhaft war oder das Ergebnis fehlerhaft. Einerlei. Jedenfalls war die Beweglichkeit der Softwareproduktion nicht groß genug. Deshalb fordert das Agile Manifest “responding to change” und “welcome changing requirements” und “harness change”. Agil ist also, wo die Softwareentwicklung schmerzfrei den Kurs ändern kann, wenn Kundenwünsche sich ändern.
  • Und schließlich hielt man die Softwareproduktion für zu sehr auf den Moment konzentriert. Weil man starr war und technikfokussiert, hinkte man der Qualität immer hinterher. Qualität herzustellen war damit quasi eine Form von kurzfristiger Reparatur. Das Ergebnis: Todesmarschprojekte und rasant wachsender Legacy Code. Dem sollte die allerdings nur einmalige Nennung von “sustainable development” entgegenwirken. Agil ist also Softwareproduktion, die nicht nur an heute denkt, sondern nachhaltig arbeitet in allen Aspekten.

In einem Satz:

Agile Softwareentwicklung ist nachhaltig reaktionsfreudig qualitätsorientiert.

Das ist doch knackig, oder? Das lässt sich twittern ;-)

Ich habe es auch bewusst ohne Kommata geschrieben, um den Zusammenhalt der Adjektive zu stärken. Agilität bedeutet eben nicht nur qualitätsorientiert zu sein, sondern das in reaktionsfreudiger Weise: reaktionsfreudige Qualitätsorientierung. Und eben nicht nur das, sondern auch auch soll diese reaktionsfreudige Qualitätsorientierung nachhaltig sein: nachhaltige reaktionsfreudige Qualitätsorientierung. Agilität gibts nur als Paket. Sie ist eben mehr als eine Aufzählung von Attributen; sie ist ein Ganzes, quasi nachhaltigreaktionsfreudigqualitätsorientiert.

Warum Agilität?

Klar, man kann noch fragen, warum sollte Softwareentwicklung agil sein. Aber darauf ist die Antwort ja einfach: agil scheint wirtschaftlicher als nicht agil. Agilität erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Überleben eines Unternehmens - und zwar das des Kunden wie das des Softwareproduzenten. Alles andere wäre ja uninteressant.

Wie erreicht man Agilität?

Und nun, da klarer ist, was bessere Softwareproduktion als früher ist, wie erreicht man diese Art Softwareproduktion?

Das ist im Grunde völlig egal. Agilität, die sich auf bestimmte Mittel versteift, ist fehlgeleitet.

Das Agile Manifest gibt zwar Hinweise für Hilfsmittel und Verhaltensweisen. Weitere sind zusammengefasst in den agilen Vorgehensmodellen Scrum und XP. Aber letztlich können das nicht mehr als Empfehlungen sein. Es haben sich halt Muster herausgeschält, die kausal verantwortlich scheinen für Verhältnisse, auf die die obige Definition von Agilität passt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Agilität messbar machen

Viel wichtiger als die Frage nach dem Wie ist die nach dem Ob. Ob man nämlich schon die agile Vision realisiert hat? Wie ist man auf dem Weg zu Agilität vorangekommen? Wenn der Einsatz von Mitteln kein Maßstab sein darf - da wäre nur Cargo-Kult -, dann muss eine andere Messlatte her. Ohne Messlatte kein Feedback zum Fortschritt auf einem Weg.

Auftritt Volker Meurer. Genau solch eine Messlatte schlägt er vor. Ob und wie agil eine Softwareproduktion ist, soll bestimmt werden durch Messungen in drei Dimensionen:

  • Reaktionszeit
  • Aufwand
  • Wert

Diese Grundidee gefällt mir sehr gut. Und doch passt da für mich etwas noch nicht ganz. Ich glaube, das liegt daran, dass Volker von einer weniger differenzierten Definition ausgegangen ist.

Ich meine, wenn schon messen, dann das, wofür Agilität steht. Dazu müssen die Grade bestimmt werden, zu denen Qualitätsorientierung, Reaktionsfreudigkeit und Nachhaltigkeit erreicht sind.

Reaktionsfreudigkeit

Reaktionsfreudigkeit scheint der am einfachsten zu messen Aspekt von Agilität zu sein. Volkers Reaktionszeit-Dimension bezieht sich offensichtlich ebenfalls darauf.

Reaktionsfreudig/-fähig ist, wer auf eine neue Anforderung, eine Überraschung, eine unerwartete Kursänderung schnell reagiert. Das kann nötig sein, weil ein vom Support gemeldeter Bug dringend gefixt werden muss. Oder es stellt sich bei der Abnahme einer gelieferten Qualität heraus, dass die nun doch nicht auf einem zufrieden stellenden Niveau für den Kunden ist und deshalb eine baldige, wenn schon nicht unmittelbare Nachbesserung erforderlich wird.

Jeder einzelne Entwickler mag total reaktionsfreudig sein und alles stehen und liegen lassen, wenn der Kunde einen neuen Wunsch äußert. Diese Reaktionsfreude ist sogar durchaus weit verbreitet - stellt aber ein Anti-Pattern dar.

Es geht vielmehr um Reaktionsfreudigkeit des gesamten Produktionsprozesses. Und das auch noch unter einer Bedingung: Es darf dabei keine Verschwendung entstehen. Darauf bezieht sich Volkers Wert-Dimension.

In welcher Ferne liegt im Gesamtprozess der nächste Punkt zur Kursänderung, ohne bisherige Qualität zu vernichten (Regression) oder in Arbeit befindliche Qualität nicht fertig zu stellen?

Kann in 4 Stunden oder in 5 Tagen oder in 4 Wochen eine neue, dem Kunden wichtige Änderung begonnen werden? Natürlich unter Berücksichtigung begrenzter Kapazität; andere Qualitäten, deren Realisierung gestern noch als nächstes anstanden, müssen u.U. zurückstecken.

In keinem Fall jedoch wird der grundsätzliche Produktionsfluss dadurch aus der Bahn geworfen.

Reaktionsfreudigkeit ist mithin mehr als Reaktionszeit. Zu der Frage “Wie lange, bis zum nächsten ‘Unterbrechungspunkt’, damit nichts Angefangenes auf Halde gelegt werden muss?” muss die Frage treten “Wie viel existierende Qualität wird vernichtet durch diese unerwartete Kursänderung?”

Die erste Frage lässt sich mit Blick auf die Uhr bzw. auf den Produktionsplan gem. de facto Produktionsprozess beantworten.

Die zweite Frage jedoch brauch ein anderes Messinstrument. Existierende Qualität kann nur durch Tests gemessen werden. Agilitätsbestimmung setzt mithin automatisierte Tests mit angemessener Abdeckung voraus, weil sonst nicht zu jedem Zeitpunkt der aktuelle Qualitätsstand leicht gemessen werden kann.

Automatisierte Tests dienen also nicht nur als Sicherheitsnetz, sondern als Messinstrument. Ohne angemessene Testabdeckung fehlt ein Messinstrument. Und damit - so würde ich sagen - fehlt per se Agilität.

Es gibt keine Agilität ohne automatisierte Tests. Da kann man sich in Iterationen drehen, wie man will. Ohne automatisierte Tests kann man sich schlicht alles in die Tasche lügen. Verschwendung durch Qualitätsvernichtung ist dann nicht auf dem Radar.

Und noch eine weitere Frage stellt sich im Rahmen der Reaktionsfreudigkeit. Selbst wenn der nächste Unterbrechungspunkt nahe ist, selbst wenn existierende Qualität durch die Kursänderung nicht vernichtet würde, so kann die Reaktionsfreudigkeit doch suboptimal sein.

Denn der nächste Zeitpunkt zum Beginn der Arbeit an einer Anforderung ist nur oberflächlich interessant. Viel wichtiger ist, wann kann mit der produktiven Arbeit an den für die neue Anforderung relevanten Aspekten begonnen werden? Das meint Volker mit seiner Aufwand-Dimension, glaube ich.

Wenn schon in 4 Stunden die neue Anforderungen in Angriff genommen werden könnte, ohne dass Verschwendung entstünde, dann wäre das super. Weniger super wäre jedoch, wenn dann erstmal 3 Tage lang refaktorisiert werden müsste, um produktiv zu werden.

Refaktorisierung würde ich nicht als Verschwendung bezeichnen. Aber die dafür aufgewandte Zeit ist unproduktiv. Weniger davon ist besser. In Analogie zur materiellen Produktion würde ich sie als Rüstzeit bezeichnen. Sie muss sich sogar nicht nur auf das Material (Code) beziehen, sondern umfasst auch die Bereitstellung von Maschinen (Tools, Infrastruktur) und Menschen. Alles, was verändert werden muss, um die eigentlich vom Kunden gewünschte Qualität herzustellen, ist hier einzurechnen.

Wie kann man solche Rüstzeit messen? Natürlich mit der Uhr. Wenn man weiß, dass es sie gibt, dann muss man schauen, wo man Anzeichen dafür sieht, dass die Produktion sich gerade in Rüstzeit befindet. Ein Blick ins Repository kann Hinweise liefern. Refaktorisierungen sollten dort als solche gekennzeichnet sein. Aber auch eine Befragung der Entwickler hilft. Hier könnte ein daily stand-up meeting als Messinstrument dienen. “Wie viel Zeit hast du gestern mit Refaktorisierung zur Vorbereitung einer Aufgabe verbracht?” oder “Wie viel Zeit hast du gestern in das Aufsetzen von Infrastruktur zur Vorbereitung gesteckt?” oder “Wie lange haben wir gestern auf Beiträge von Dritten gewartet, um mit der neuen Aufgabe zu beginnen?” sind Fragen nach Rüstzeit.

Ein daily stand-up meeting begründet mit “individuals and interactions” ist schwach. Und die Frage “Was hast du gestern gemacht?” in einem co-located Team ist langweilig. So degenerieren stand-ups schnell zu Pflichtveranstaltungen, zu Cargo-Kult. Sich allgemein kollaborativ austauschen kann man auf andere Weise besser. Aber mit der konkreten Aufgabe “Rüstzeit messen” ist die Kraft hinter einem stand-up ganz anders. Spüren Sie das? Da weiß jeder ganz genau, worum es geht und worauf man am Tag achten muss. (Ob ein daily stand-up das beste Messinstrument ist, sei aber weiter dahingestellt. In jedem Fall ist es eines, mit dem Sie leicht beginnen können.)

Reaktionsfreudiger ist also, wer mit kürzerer Reaktionszeit und mit weniger Verschwendung und weniger Rüstzeit auf neue Anforderungen reagieren kann als andere oder vormalig er selbst.

Qualitätsorientierung

Volkers Dimensionen dienen der Bestimmung des Agilitätsgrades einer Organisation. Aber sie beziehen sich aus meiner Sicht nur auf den Aspekt der Reaktionsfreudigkeit. Der ist wichtig, aber nicht eben nicht der einzige.

Wer Agilität implementieren will, der muss mehr sein, als reaktionsfreudig. Der muss Qualitätsorientierung zeigen. Nur wie drückt die sich aus? Wie kann man die messen?

Qualität ist etwas von Wert. Dafür ist der Kunde bereit, zu zahlen. Die erste Frage muss daher lauten: Wird der Fortschritt der Produktion an werthaltigen Aufgaben gemessen?

Es gibt immer wieder Projekte, in denen Meilensteine lauten, “Kommunikationsframework eingebaut” oder “ORM entwickelt”. Natürlich zielen solche Aufgaben auf die Herstellung irgendeiner Qualität ab. Doch die Qualität selbst ist eben nicht Aufgabe. Technologien, Infrastruktur, Tools sind lediglich Mittel, um Qualitäten herzustellen.

Für den Kunden ist mit spürbarem Wert also nichts geschafft, wenn ein Kommunikationsframework eingebaut oder ein ORM entwickelt wurde. Das ist kein messbarer Fortschritt. Ob das gut getan ist, kann er nicht sagen.

Qualitätsorientierten Fortschritt gibt es nur, wenn Aufgaben Feedbackfähiges betreffen. Use Cases oder User Stories sind anerkannter Ausdruck dafür; ich würde aber lieber etwas neutraler von Inkrementen sprechen. Je mehr Inkremente den Ausgangspunkt der Produktionsplanung darstellen, desto agiler die Softwareentwicklung.

Aber dabei sollte die Messung nicht stehenbleiben. Denn wir hoch ist der Wert jeder dieser hübsch formulierten Aufgaben? Ihre Formulierung zeigt, dass sie irgendeinen Wert haben, aber nicht welchen. Weder absolut noch im Vergleich. Ohne eine Wertzuordnung ist aber nicht einschätzbar, ob die Produktion gerade viel Wert oder wenig herstellt.

Ein zweiter Maßstab für Agilität ist daher, in welchem Ausmaß Inkremente mit einem Wert versehen sind. Sehr große Aufgaben haben gewöhnlich einen vom Management oder Kunden bezifferte Wert. Aber wie steht es mit kleineren und kleinsten Aufgaben?

Wert muss dabei nicht direkt etwas mit Geld zu tun haben. Es geht nicht darum zwanghaft einen vermuteten Umsatz an eine Aufgabe zu hängen oder cost of delay zu berechnen. Auch die Zahl der Anwender, die von der Umsetzung einer Aufgabe profitieren, stellt einen Wert dar. Oder die erwartete Nutzungshäufigkeit einer Qualität. Oder ein Erkenntnisgewinn über Kundenverhalten oder Technologiefunktionalität. Der Wert an Information ist nicht zu unterschätzen. Das schließt die Ausräumung von Unsicherheiten ein.

Damit aber nicht genug. Wert allein macht auch nicht glücklich, kann man sagen. Viele kleine Verbesserungen schnell ausgeliefert können mehr bewirken als die mega Verbesserung in ferner Zukunft.

Qualitätsorientierung muss dem Wert einer Aufgabe daher einen Aufwand gegenüberstellen. Es muss also ebenfalls gemessen werden, wie weit Aufgaben mit geschätzten Aufwänden versehen sind. Die Maßeinheit ist dabei egal (Fibonacci-Zahlen oder T-Shirt-Größen). Es geht auch nicht um Vorhersagen, wie lange die Realisierung einer Qualität zeitlich dauern wird.

Lediglich eine vergleichende Schätzung von Aufgaben, die derzeit auf dem Tisch sind, ist nötig. Wichtig ist einzig der Faktor, in dem sie sich unterscheiden. Beispiel: Aufgabe A ist die kleinste, ihr Faktor ist 1. Aufgabe B braucht geschätzt doppelt so viel Aufwand, ihr Faktor ist 2. Aufgabe C braucht ca. 50% mehr Aufwand als B, ihr Faktor ist also 3.

Ob in diesem Beispiel am Ende A in 2 Tagen und B daher in 4 Tagen realisiert würde oder wurde, ist uninteressant. Die Messung im Nachhinein ist zwar möglich - aber sollte nicht zur Kalibrierung von Faktoren führen. “Aha, der Faktor 2 bedeutet 4 Tage! Beim nächsten Mal werden wir das bei der Planung berücksichtigen.” Solche Gedanken sind irrig. Sie führen konsequent in Konflikte aufgrund von falschen Voraussagen. Sie erzeugen Unzuverlässigkeit.

Außerdem sind solche Voraussagen für eine Qualitätsorientierung völlig überflüssig. Durch (nicht einhaltbare) Versprechen von einer bestimmten Qualität zu einem bestimmten Zeitpunkt wird keine Qualität hergestellt. Qualität wird ausschließlich dadurch hergestellt, dass man programmiert. Schnellstmöglich geschieht das, wenn die Reihenfolge der Aufgabenabarbeitung wertmaximierend ist.

Es ist also viertens zu messen, in welchem Umfang die feedbackfähigen Aufgaben gemäß Wert und Aufwand priorisiert abgearbeitet werden. Dazu wird der Wert durch den Aufwand geteilt. Das Verfahren heißt Weighted Shortest Job First (WSJF) und berechnet für jede Aufgabe ein Gewicht, das umgekehrt proportional zur Priorität einer Aufgabe ist: je kleiner das Gewicht, desto höher die Priorität.

Dass irgendwann irgendwer beurteilt, ob eine Aufgabe mit der erwarteten oder dann benötigten Qualität umgesetzt wurde, muss nicht diskutiert werden. Das ist auch in voragilen Zeiten so gewesen.

Echte Qualitätsorientierung braucht jedoch mehr. Sie will möglichst schnell wissen, ob sie erfolgreich ist. Es kommt also nicht nur auf die Reaktionszeit für die Aufnahme der Arbeit an einer neuen Anforderung an, sondern auch auf die Reaktionszeit des Abnehmers.

Bei der Reaktionsfreudigkeit kann es zu Verschwendung kommen. Bei der Qualitätsbeurteilung auch. Sie setzt ein, sobald die Abnahme einer fertiggestellten Qualität sich verzögert. Dann liegt Wert auf Halde. Was erarbeitet wurde, kann seinen Wert - falls es den hat - noch nicht entfalten. Es wurde ja noch nicht beurteilt.

Zu messen ist also die Zeit zwischen Fertigstellung und Abnahme. Wie lange dauert es, von dem Moment, da die Programmierung sagt “Fertig! Aufgabe umgesetzt.”, bis zu dem Moment, da der Abnehmer sich das anschaut?

Dass der Verzug möglichst klein sei, ist aber nicht nur für den Kunden von Interesse, damit er schnell Wert in die Hand bekommt. Denn nicht immer ist die gewünschte Qualität ja auch durch die Softwareproduktion erreicht. Das Vorgestellte kann einen Fehler enthalten, missverstanden sein oder aus anderen Gründen nicht recht passen. Dann muss nachgebessert werden.

Nachbesserungen reduzieren die Kapazität der Softwareproduktion für Neues. Nachbesserungen stellen Wert verspätet her. Das kann nicht im Sinne von Agilität und Flüssigkeit sein. Daraus ergibt sich eine weitere Messlatte: Wie oft kommt es zu Nachbesserungen?

Nachbesserungen können bei der Abnahme gefordert werden; es handelt sich um Bugs oder Korrekturen von Missverständnissen bzw. Unvollständigkeiten. Oder sie kommen quer herein vom Support. Je mehr es gibt, desto schlechter ist es um die Qualitätsorientierung bestellt.

Bitte bemerken Sie: Ich fordere hier keine Unit Tests oder eine QA. Auch keine Rolle für die Anforderungsanalyse. Das sind alles nur mögliche Mittel, um die eine oder andere Metrik zu verbessern. Genau das ist ja aber hier nicht der Punkt. Es geht nicht um Maßnahmen, sondern erstmal nur den Vorschlag einer Sammlung von Messlatten für die Agilität.

Eine Rolle für die Abnahme ist jedoch zwingend. Sonst kann das, worum es der Agilität geht, nicht beurteilt werden.

Qualitätsorientierter ist also, wer inkrementeller in gewichteter Weise voranschreitet und schnelleres Feedback mit weniger Nachbesserungswünschen erhält als andere oder vormalig er selbst.

Nachhaltigkeit

Zu guter Letzt die Nachhaltigkeit. Wie könnten wir die messen?

Nachhaltig handeln bedeutet, jetzt etwas tun, das unsere Optionen in der Zukunft nicht verringert, sondern bestenfalls sogar erhöht. Ressourcen, die heute zur Verfügung stehen, dürfen ihre Kapazität nicht verlieren; sie sollten sie sogar tendenziell steigern.

Nachhaltigkeit erfordert also die Beobachtung der Entwicklung von Ressourcen.

Die für die Softwareentwicklung relevanten Ressourcen sind: die Menschen, der Produktionsprozess und die implementierte Lösung, d.h. Code und nötige Infrastruktur.

Zu messen ist zunächst, ob die Beobachtung dieser Ressourcen überhaupt stattfindet.

Nach allgemeinem Sprachgebrauch würde ich sagen, dass Reviews die implementierte Lösung beobachten und Retrospektiven Menschen und Prozess.

Wie die Beobachtung in Reviews und Retrospektiven erfolgt, ist eine zweite Sache. Aber die Diskussion darüber ist nicht Teil dieser Betrachtung.

Beobachten ist gut, nur was passiert dann mit den Erkenntnissen? Sicherlich werden in Reviews und Retros Entscheidungen für Veränderungen getroffen, die umgesetzt werden müssen. Das mag für einige “einfach so” im Tagesgeschäft gehen. Um das verlässlich hinzubekommen, muss die Organisation ein Bewusstsein für und den Willen zu Verlässlichkeit haben. Hat sie das aber wirklich? Das sollte gemessen werden. Welche Versprechen werden gegeben, wie viele davon werden eingehalten, wie viele gebrochen, wie viele neu verhandelt, bevor man sie erfüllt?

Nicht alle beschlossenen Veränderungsmaßnahme lassen sich jedoch sofort umsetzen. Angesichts der Entwicklungsgeschwindigkeit unserer Branche ist zu erwarten, dass immer etwas so neu und umfangreich ist, dass die Organisationsmitglieder es sich erst außerhalb der normalen Produktion erarbeiten müssen. Dafür muss Raum zum Lernen bereitstehen - und zwar nicht nur gelegentlich, ad hoc, sondern kontinuierlich. Nur so erhält sich jeder Einzelne und die Organisation als Ganzes Zukunftsfähigkeit. Zu messen ist also mindestens der Anteil der Lernzeit an der Arbeitszeit. Besser jedoch sollte auch noch gemessen werden, wie hoch die Lernfrequenz ist.

Beobachten und Lernen ist gut, aber kann auch zu spät kommen oder nicht die gewünschte Wirkung entfalten. Zur Nachhaltigkeit gehören deshalb Puffer, um Minderleistungen bzw. Unerwartetes jeder Art abzufedern. Die Organisation darf gar nicht erst in eine Situation kommen, die ihre Existenz bedroht.

Welche Puffer es geben kann/gibt, hängt von den im Einsatz befindlichen Ressourcen ab. Naheliegend ist da der Gedanke ans liebe Geld. Oder der an Maschinen. Aber auch Mitarbeiter, deren Zeit, deren Motivation, deren Kenntnisse, deren Kreativität sind Ressourcen. Oder Kunden. Oder Zulieferer.

All das und mehr hat jeweils eine Menge, Leistungskraft, Kapazität, die für die aktuelle Produktion gerade reicht - oder eben größer sein sein. Was ist, wenn unerwartete Veränderungen in der Umwelt oder in der Organisation fordern, dass eine Ressource sich mehr als bisher einbringt? Ein Mitarbeiter will in die Elternzeit gehen, ein Mitarbeiter kündigt, ein Zulieferer fällt aus, ein Kunde springt ab, eine neue Technologie soll zukünftig verwendet werden, eine neue Anforderung erweist sich als deutlich schwieriger als angenommen in der Umsetzung… Das sind Belastungen jenseits des Normalen, für deren Bewältigung Reservekapazität, d.h. Puffer vorhanden sein müssen.

Gibt es dafür Puffer? Das sollte gemessen werden. Zugegeben, das mag nicht leicht fallen. Aber das Mindeste ist, sich überhaupt der Wichtigkeit von Puffern bewusst zu sein. Existiert also zumindest dieses Bewusstsein? Gibt es einen Willen zum Aufbau und Vorhalten von Puffern? Ich denke, das lässt sich schon in Gesprächen mit Organisationsmitgliedern herausfinden.

Nachhaltiger ist also, wer reflektierter und zuverlässiger bewusst lernend und gepuffert produziert als andere oder vormalig er selbst.

Zusammenfassung

Puh… da ist einiges zusammengekommen. Das hätte ich am Anfang nicht gedacht, als ich begann, diesen Artikel zu schreiben. Vorher wusste ich das nicht so genau, weil Schreiben für mich immer auch Nachdenken ist. Während des Schreibens entwickelt sich oft erst, was ich eigentlich denke.

Hier die Messinstrumente nochmal in der Übersicht:

  • Reaktionsfreudigkeit

    • Reaktionszeit bis zur Aufnahme der Arbeit an einer neuen Anforderung

    • Umfang der durch eine Änderung entstehenden Regression

    • Rüstzeit bis zum Beginn produktiver Arbeit an einer neuen Anforderung

  • Qualitätsorientierung

    • Prozentsatz der Aufgaben, die Inkremente darstellen

    • Prozentsatz der Inkremente, die mit einem Wert versehen sind

    • Prozentsatz der Inkremente, die mit einem Aufwand versehen sind

    • Prozentsatz der Inkremente, die nach Gewicht (Wert/Aufwand) priorisiert abgearbeitet werden

    • Wartezeit von Fertigstellung einer Aufgabe bis zur Abnahme

    • Menge der Nachbesserungen bei Abnahme und vom Support

  • Nachhaltigkeit

    • Frequenz von Reviews

    • Frequenz von Retrospektiven

    • Zahl der erfüllten, gebrochenen, nachverhandelten Versprechen

    • Prozentsatz der Lernzeit an der Arbeitszeit

    • Frequenz der Lernzeiteinheiten

    • Anzahl und Größe von Puffern

Ist das nicht ein bisschen viel? Volkers drei Dimensionen waren so schön übersichtlich.

Keine Ahnung, ob das am Ende zu viele Messinstrumente sind. Im Augenblick wüsste ich aber nicht, welches davon unnötig wäre. Sie scheinen zwar unterschiedlich wichtig zu sein, man muss wohl nicht sofort alle in Anschlag bringen. Andererseits ist ja auch nicht alles schwierig zu messen.

Wie es um Reviews steht oder ob in Inkrementen vorangeschritten wird, ist doch leicht zu messen. Rüstzeiten oder der Umgang mit Versprechen hingegen, mögen schwieriger zu beurteilen sein.

Würde es nicht reichen, einfach nur auf Scrum oder Kanban zu setzen? Scrum führt doch z.B. Retros und Inkremente ein und zwingt zu Versprechen. Damit wird doch das Richtige getan. Ja, einerseits. Dagegen ist nichts zu sagen - solange man versteht, warum (!) Scrum das macht. Solange man versteht, dass das nicht alles ist. Eine Diskussion über Kriterien und Metriken für Agilität ist eine andere als eine über Maßnahmen.

Wenn einige der Metriken hier schon wie klare Empfehlungen zu Maßnahmen aussehen, dann ist das ja nicht schlecht. Bei anderen Metriken habe ich mich aber bewusst zurückgehalten. So dachte ich z.B., dass auch gemessen werden könnte, ob/wie Zeitmanagement gelebt wird. Aber das wäre zu viel Vorgabe. Solange Zuverlässigkeit vorhanden ist, ist es egal, wie sie entsteht. Dito muss nicht gemessen werden, ob ein ProductOwner vorhanden ist, der Inkremente formuliert. Woher die kommen, wer die Werte und Aufwände bestimmt… keine Ahnung. Solange es geschieht, ist das doch egal.

Maßnahmen, wie Messwerte über die Zeit verbessert werden können, können sich Organisationen selbst überlegen oder von anderen abschauen und ausprobieren. Dafür ist die Reflexion da. Dass die da ist, muss dann jedoch gemessen werden.

Und warum reicht Kanban nicht einfach? Für meinen Geschmack stellt sich Kanban in mancher Hinsicht zu dumm. Transparenz + WIP Limit: mehr braucht es am Ende nicht. Das mag ultimativ korrekt sein - nur dauert es dann womöglich länger als nötig, um die richtigen Maßnahmen zu finden.

Bei systemischen Ansätzen soll der Klient ja die Lösung immer in sich finden. Schöner Gedanke. Natürlich muss die Lösung auch zum Klienten passen. Die Frage ist nur, wie kommt der Patient zu dieser Lösung? Ich glaube, dafür darf der Klient erstens Input von außen erhalten; ein Coach darf Vorschläge unterbreiten und Sichtweisen äußern. Und zweitens gehört dazu eben eine sehr feine Wahrnehmung. Um beurteilen zu können, was ihm taugt, muss der Klient die Effekte, die eine Idee oder probeweise Veränderung hervorruft, sehen, hören, schmecken, tasten, spüren, fühlen. Es braucht schlicht Messungen entlang vieler Dimensionen.

Ein WIP-Limit und der aus seinem Erreichen resultierende Schmerz sind mir da zu wenig und kommen womöglich zu spät. Wenn ich von einer Sache keine Ahnung habe, dann fange ich vielleicht mit diesem Minimum an. Aber von Softwareentwicklung sollten wir Ahnung haben und deshalb schon wissen, wo es haken kann. Da sollten wir dann Messpunkte einrichten. Dafür habe ich hier mal ein paar Vorschläge gemacht.

Ausgehend von einer Definition dessen, was überhaupt erreicht werden soll - reaktionsfähige nachhaltige qualitätsorientierte Softwareproduktion - sollten wir zunächst darüber sprechen, wie sich deren Güte ausdrücken könnte. Welche Attribute hat sie? Wenn wir sofort zu Maßnahmen springen, dann ist das gut gemeint, führt aber eben schnell zu Ritualen ohne Verbesserung der Attributwerte. Der Effekt ist das, was wir seit Jahren bei der Agilität sehen: Es wird Orthodoxie und Häresie gesprochen. Die Maßnahmen werden zum Problem. Das eigentliche Problem tritt in den Hintergrund.

Wenn wir uns jedoch zunächst über geeignete Messpunkte unterhalten, dann sind wir viel offener, was die Maßnahmen angeht. Vielleicht behalten manche Maßnahmen ihren Wert. Vielleicht finden sich aber auch ganz andere Maßnahmen, ohne dass man sich dafür entschuldigen müsste. Denn es zählen die Ergebnisse: bessere Messwerte. Morgens zusammen stehen oder co-location oder story point Schätzungen… Ist doch egal, solange etwas besser wird.

Die Verlagerung des Fokus auf Attribute und Messinstrumente lässt auch Raum für unterschiedliche Level an Agilität. Muss denn jeder maximal agil sein? Oder reicht es, angemessen agil zu werden für einen gewissen Kontext? Oder gibt es eben ganz unterschiedliche Maßnahmenausprägungen für Agilität je nach Kontext?

Messungen statt Maßnahmen an den Anfang zu setzen, scheint mir überfällig und zeitgemäß. Damit wird der Individualität von Organisationen mehr Rechnung getragen. Damit erhalten Organisation mehr Autonomie, den ihnen gemäßen Weg zur Agilität zu finden.

Agilität ist kein Absolutum. Sie ist ein Mittel, das dosiert einzusetzen ist, um mit Unsicherheit, mit Komplexität umzugehen. Wenn die aber unterschiedlich ist für verschiedene Organisationen, dann sollte die Agilität das widerspiegeln.

Das bedeutet: Am Anfang jeder Agilität steht die Entscheidung für eine Definition und der Wille zur Messung relevanter Attribute mit kontinuierlicher Reflexion über die Beobachtungen und Ableitung geeigneter Maßnahmen, um die Werte mehr in Einklang zu bringen mit den Notwendigkeiten, die sich aus Veränderungen im Außen und Innen ergeben.

Montag, 13. April 2015

Konsequente Verlässlichkeit - Promise Like a Pro

Die grundlegenden Kompetenzen, die jeder Softwareentwickler haben sollte sind nach Joel Spolsky:

  1. Smart, and
  2. Get things done.

Dem kann ich nur zustimmen. Und nicht nur für Softwareentwickler gilt dies, würde ich sagen. Es sind die Voraussetzungen für jeden “Wissensarbeiter”, egal ob Programmierer, Tester, Product Owner, Softwarearchitekt, Entwicklungsleiter usw.

Wie es mit der Smartness in der Branche steht, will ich hier nicht diskutieren. Das ist ein schwieriges Feld. Auch wenn ich ein Gefühl dafür habe, was “Smart” bedeutet… eine klare Definition fällt mir noch nicht ein. Da geht es um Auffassungsgabe, Denkvermögen, Abstraktionsvermögen, Konzentrationfähigkeit, Lernfähigkeit und -willigkeit. Weniger allerdings um schon vorhandenes Wissen. Nur soviel ist klar: Smartness ist sehr unterschiedlich verteilt.

Wie es allerdings mit “Get things done” steht, das soll hier mein Thema sein. Denn da ist das Bild grimm.

“Get things done” setze ich gleich mit “zuverlässig sein”. Jemand liefert Zugesagtes wie vereinbart. Ganz einfach. Ohne, dass man ihn andauernd anstoßen muss.

Solche Zuverlässigkeit sehe ich in unserer Branche am Boden. Genauso wie bei der “Büroarbeit” im Allgemeinen. In Ersteres habe ich selbst Einblick, über Letzteres erfahre ich immer wieder von meiner Freundin, die Professional Organizer und Efficiency Trainer ist.

Was wird denn zuverlässig erledigt? Im Kleinen wir im Großen grassiert die Unzuverlässigkeit. Man kommt zu spät zum Meeting, man ruft nicht wie versprochen zurück, Emails werden nicht (in angemessener Zeit) beantwortet, Abschätzungen werden nicht eingehalten, Zulieferungen werden nicht in vereinbarter Qualität gemacht, man vergisst Unterlagen usw. usf. ad nauseam.

Natürlich sind die Entschuldigungen vielfältig. Meist sind “die Umstände” schuld, dass man unzuverlässig ist. Ist das nicht verständlich?

Und da jeder unzuverlässig ist, entschuldigt man sich auch gegenseitig immer wieder. Man nimmt es hin. Man sagt gar “Ach, ist doch nicht so schlimm.” - weil man es ohnehin schon geahnt hatte, dass es nicht so kommen würde, wie es vereinbart war.

Ja, so ist das. Das beobachte ich überall. Und es kotzt mich an. Was ist denn das für eine Art des Umgangs miteinander?

Unabhängig von der Respektlosigkeit die in dieser epidemischen Unzuverlässigkeit steckt, ist sie auch noch kontraproduktiv. Sie trägt dazu bei, dass die Arbeit länger dauert, als sie müsste. Sie trägt dazu bei, dass die Arbeit teurer wird, als sie müsste. Unzuverlässigkeit erzeugt Verschwendung.

Leider ist der Preis, den jeder Einzelne wie auch Unternehmen dafür zahlen, oft kaum messbar. Nachbesserungen und Wartezeiten und zusätzliche Transaktionskosten aller Art sind meist unterhalb des Radars des Controlling. Das sieht dann nur ungünstige makroskopische Effekte und versucht - kaum verwunderlich - mit wenig tauglichen Maßnahmen gegenzusteuern. Eher verschlimmern solche Maßnahmen sogar die Unzuverlässigkeit. Eine negative Spirale beginnt sich zu drehen…

Die Klagen sind laut über die Unzuverlässigkeit. Warum, zum Teufel, können denn Zusagen nicht eingehalten werden? Warum wird zu spät geliefert? Warum ist das alles teurer als geplant? Warum sind die Leute, die zugesagt wurden, nicht da?

Und keiner sieht, dass die Ursache dafür nicht woanders liegt, sondern in jedem selbst.

Wir alle sind für die großen Unzuverlässigkeitsprobleme mit verantwortlich, wenn wir uns schon im Kleinen gleichgültig verhalten, was unsere persönliche Zuverlässigkeit angeht.

Wir haben verlernt, Zuverlässigkeit als Wert anzusehen. Pünktlichkeit war einmal ein Charaktermerkmal, an dem man gemessen wurde. Das ist wie andere auch in Ungnade gefallen. Pünktlichkeit ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Und andere Zuverlässigkeit auch nicht. WTF!

Wenn wir wollen, dass Kunden mehr Vertrauen in unserer Tätigkeit haben, dann müssen wir etwas dafür tun. Wir müssen die Zuverlässigkeit wieder kultivieren. Wir müssen anstreben, 100% zuverlässig zu sein. Ja, genau: 100% sind das Ziel. Nicht weniger.

Wir müssen jedes, aber auch jedes Versprechen einhalten. Immer. Denn um nichts weniger geht es bei Zuverlässigkeit: Zuverlässig ist, wer Versprechen stets einhält.

Wer unzuverlässig ist, bricht ein Versprechen - und irgendwo stirbt ein kleines Kätzchen einen grausamen Tod.

Jedes gebrochene Versprechen hinterlässt einen Knacks bei dem, dem wir versprochen haben. Es mögen manchmal und zuerst nur Haarrisse sein. Doch je öfter wir nicht halten, was wir versprechen, desto weiter wird das Geflecht dieser Risse. Dann entstehen brüchige Stellen im Vertrauen. Und am Ende… da zerbricht es womöglich daran.

Das ist ein schlimmer Effekt. Denn Vertrauen ist ein wesentliches Mittel zur Reduktion von Komplexität. Fehlt das Vertrauen, zieht explizite Kontrolle ein. (Micro-)Management ist die Folge. Oder Rechtsanwälte übernehmen.

Nach 100% Zuverlässigkeit zu streben, hat also nur positive Effekte. Warum tun wir es dann nicht?

Weil unser Verständnis von Versprechen undifferenziert ist. Im Grunde ist uns meist nicht bewusst, was wir da eigentlich tun, wenn wir etwas versprechen. Oder wir ahnen nicht einmal, dass wir überhaupt etwas versprochen haben.

Aber das lässt sich ändern. Hier einige Denkanstöße für Sie. Das Ziel 100% Verlässlichkeit ist erreichbar.

Verantwortung übernehmen

Zunächst einmal sollte jedem, der etwas verspricht bewusst sein, dass man nur für sich selbst etwas versprechen kann. Denn ein Versprechen abgeben, bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Wichtig ist dabei das Übernehmen. Verantwortung kann - entgegen dem Sprachgebrauch - nicht übertragen werden. Sie kann nur im vollen Besitz aller geistiger Kräfte übernommen werden.

“Ich verspreche, dass ich Auftrag A wie gewünscht ausführe!”: Das ist ein gültiges Versprechen. Damit kann ein Auftraggeber etwas anfangen. Der Auftragnehmer wird damit verantwortlich; das Ergebnis wird zurechnungsfähig.

“Ich verspreche, dass Mitarbeiter M den Auftrag A wie gewünscht ausführen wird!”: Das ist ein ungültiges Versprechen - zumindest solange die dritte Partei, der eigentliche Auftragnehmer, nicht selbst schon die Verantwortung übernommen hat. Wer diese Verantwortungsübernahme lediglich vermittelt, übernimmt sie dann nicht selbst.

Leider grassiert die Unart, dass Versprechen im Namen Dritter ohne vorherige Rücksprache und Übernahme abgegeben werden. Da verspricht der Vertrieb, dass ein Feature bis zum Termin T eingebaut sein wird - ohne die Entwicklung vorher zu fragen. Der Support verspricht, dass ein Bug sofort gefixt wird - ohne den Product Owner zu konsultieren. Der Manager verspricht, dass das Release noch diese Woche live geht - ohne das mit der IT-Abteilung abgesprochen zu haben.

All dieses und viele andere Versprechen mehr sind jedoch ungültig. Man kann ihnen nicht vertrauen. Ihr Bruch ist vorprogrammiert. Oder zumindest ist Stress vorprogrammiert. Die Gründe liegen auf der Hand:

  • Wer im Namen Dritter verspricht (und nicht nur vermittelt) übernimmt selbst Verantwortung. Wenn er dann aber nicht an der Ausführung beteiligt ist, wird er dazu tendieren, Druck auf die Ausführung auszuüben, damit er sein ungültigerweise abgegebenes Versprechen auch hält. Das macht selten für die Ausführung etwas besser.
  • Wer im Namen Dritter ohne deren ausdrückliche Verantwortungsübername verspricht, also über deren Zeit und Arbeitsinhalte bestimmt, beschädigt die Motivation. Wer will schon keine Wahl haben bei der Verantwortnungsübernahme?
  • Ohne echte Verantwortungsübernahme sind die Bedingungen für die ausführenden Dritten selten so, wie sie sein müssten. Auch ohne Micro-Management entsteht dadurch sehr wahrscheinlich Stress, weil es an Budgets und/oder Ressourcen mangelt.

Merke: Versprechen kann nur, wer selbst ausführt.

Und was kann einer versprechen, der etwas ausführt?

Ergebnisse versprechen

Üblicherweise werden Ergebnisse versprochen. Das wird auch erwartet.

“Die Kosten der Wagenreparatur werden 1000€ sein. Sie können ihn übermorgen abholen.”, “Das Essen wird in einer halben Stunde auf dem Tisch stehen.”, “Das Release geht morgen früh raus.”, “Ich rufe dich um 9h an.”, “Meine Email-Adresse ist …” - so lauten größere und kleinere, bewusstere und unbewusstere Ergebnisversprechen, die wir jeden Tag abgeben.

Das Dumme dabei: Ergebnisse zu versprechen, ist sehr risikoreich. Man muss die Ausführungsumstände schon sehr unter Kontrolle haben, um ein Ergebnis verlässlich zu erzielen. Für die Zubereitung des Mittagessens mag das noch der Fall sein. Wahrscheinlich auch bei der Wagenreparatur - immerhin hat der KFZ-Mechaniker sich für den Kostenvoranschlag Zeit genommen zu einer Begutachtung des Autos. Aber ob das Release wirklich morgen früh rausgeht?

Selbst so simple Versprechen wie der Anruf am Morgen oder auf Emails in angemessener Zeitspanne zu antworten, sind risikoreich, wie es scheint. Denn wie oft werden sie gebrochen…[1]

Ein Ergebnis kann nur versprochen werden, wenn seine Herstellung eine “handwerkliche Tätigkeit” ist (vgl. “Unschätzbare Arbeitsweisen”). Handwerker sind die, die Ergebnisse verlässlich reproduzieren. Dafür bauen sie über Jahre Erfahrung auf. Diese Erwartung haben wir an sie - zurecht.

Ein Mittagessen zuzubereiten sollte eine handwerkliche Tätigkeit sein. Auch den Anruf für den nächsten Tag sollte auf dem Niveau sein. Ebenso, sich zu einem Treffen einzustellen. Und nach Erforschung des Zustands eines Wagens erwarten wir auch, dass der KFZ-Mechaniker sich in einer Handwerkerzone befindet.

Aber ist das Fixing eines Bugs handwerklich? Kaum. Dazu gehört eine unbestimmte Menge Forschung. Dito die Umsetzung eines neuen Features oder auch nur die Analyse von Anforderungen. Gerade in der Softwareentwicklung sind wir immer wieder erwartbar (oder auch überraschend) als Forscher und Ingenieure gefragt. Dann tun wir gut daran, keine Ergebnisse zu versprechen. Denn nichts anderes wollen Kunde und Management, wenn sie um eine Aufwandsschätzung bitten. Schlimmer noch, wenn z.B. das Marketing ungültig verspricht, “Das Feature haben wir bis zur Messe drin!”

Widerstehen Sie in diesen Fällen! Lassen Sie sich auf kein Ergebnisversprechen ein - solange für Sie als Ausführender nicht sonnenklar ist, dass die Ausführung zu 80+% rein handwerkliche Tätigkeit ist.

Und wie erkennen Sie ein Ergebnisversprechen? Ergebnisse sind Zielzustände, deren Erreichung an ein Budget geknüpft ist.

Budgets können finanziell sein, aber vor allem zeitlich. “Das Essen ist um 12h auf dem Tisch!” Wer dieses Ergebnis um 11h verspricht, hat ein Zeitbudget von 60 Minuten, um den Zustand “Essen auf dem Tisch” herzustellen.

Wie gesagt: Es ist nicht unmöglich, Ergebnisse zu versprechen. Aber vermeiden Sie es oder seien Sie sich zumindest dessen sehr, sehr bewusst. Tun Sie es nur, wenn die Herstellung des Zielzustands quasi eine Reproduktion ist, wenn sie das schon oft unter gleichen Umständen getan haben.

Merke: Ergebnisversprechen sind riskant!

Eine Sonderform von Ergebnisversprechen sind die, bei denen die Budgetgröße nicht im Vordergrund steht, sondern der “Liefertermin” für den Zustand. Das ist der Fall, wenn das Ergebnis mit einem (unplanbaren?) Ereignis verknüpft wird. Beispiele: “Ich verspreche, dass ich bei jedem Anruf Name und Anliegen und Uhrzeit notiere.”, “Ich verspreche, dass ich keine Aufträge mehr annehme, die nicht schriftlich vorliegen.”

Das Risiko besteht hier weniger in der Herstellbarkeit des Zielzustands, als vielmehr darin, ihn auch tatsächlich zu produzieren. Handwerkskunst ist in Bezug auf das Erinnerungsvermögen und den Willen gefragt. Erinnere ich mich im rechten Moment daran, was ich versprochen habe? Habe ich die Disziplin, das Versprochene zu tun? Der zu erreichende Zustand ist also vor allem “Bewusstsein und Energie”.

Verhalten versprechen

Sie werden nun wahrscheinlich denken: “Aber wenn ich keine Ergebnisse mehr versprechen darf… Was soll ich denn dann versprechen? Man verlangt von mir doch ein Commitment.”

Sie haben Recht. Wir brauchen Commitments in der Zusammenarbeit, im Zusammenleben. Ohne Verlässlichkeit wird alles zäh, stressig, ärgerlich.

Aber Sie können ja nicht nur riskante Ergebnisse versprechen, sondern auch Verhalten. Das ist viel weniger riskant.

Ein plakativer Vergleich: Wenn Sie das Ergebnis “2020 habe ich den Welthunger besiegt!” versprechen, ist der Misserfolg vorprogrammiert. Versprechen Sie hingegen “Ab heute werde ich jeden Tag bis 2020 2 Stunden dem Sieg über den Welthunger widmen!”, dann ist ein Erfolg in Ihrer Reichweite.

Ein Verhaltensversprechen verlangt Ihnen keine handwerkliche Erfahrung in Bezug auf den Tätigkeitsgegenstand ab. Sie müssen kein Budget für die Ergebniserreichung angeben. Verhaltensversprechen können Sie also auch immer dann guten Gewissens eingehen, wenn Sie noch forschen und planen müssen. Und das ist - zumindest in der Softwareentwicklung - meistens der Fall.

Und wie erkennen Sie ein Verhaltensversprechen? Verhalten ist eine Tätigkeit unter festgelegtem Ressourceneinsatz.

Verhaltensversprechen versprechen also keinen Zustand (“Bug gefixt”, “Essen gekocht”), sondern eine Aktivität (“Bug fixing”, “Essen kochen”). Statt Futur II (“Ich werde geschafft haben.”) benutzen Sie Futur I (“Ich werde tun.”).

Verhaltensversprechen haben allerdings nichts mit Versuchen zu tun, ein Ergebnis herzustellen. Sagen Sie also nicht “Ich werde versuchen, Zustand Z bis zum Termin T herzustellen.” Damit verleiten Sie den Auftraggeber, ein Ergebnisversprechen herauszuhören. Wenn Sie kein Ergebnis versprechen können oder wollen, dann tun Sie das auch nicht. Seien Sie mutig und klar in Ihrer Aussage.

Ebenso wenig haben Verhaltensversprechen mit Mühe zu tun. Sagen Sie also auch nicht “Ich werde mich bemühen, Aktivität A zu tun.” Was Sie da nämlich versprechen, ist nicht die Aktivität A, sondern sich zu bemühen. Das will ein Auftraggeber jedoch nicht. Der möchte A und sonst nichts. Sagen Sie ihm also klar, ob ud wie Sie A leisten können.

Warum hört man aber so oft, dass jemand nur Mühe verspricht? Weil es an handwerklichem Können fehlt. Denn auch für Verhaltensversprechen ist Handwerk grundlegend. Wir müssen nämlich in Bezug auf unsere Zeit Handwerker sein. Wir müssen unser Zeitmanagement im Griff haben. Der Umgang mit Kalender und Aufgabenliste ist zentral für jede Verlässlichkeit.

Bei Ergebnisversprechen ist das selbstverständlich und offensichtlich. Da steht der Zustandslieferungstermin im Vordergrund.

Verhaltensversprechen haben zwar keinen solchen Termin, dennoch braucht das Verhalten einen präzisen zeitlichen Rahmen.

Das war mir lange nicht klar. So sinnig ich die Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Verhaltensversprechen fand, war mir doch manchmal beim Versuch, ein Verhalten zu versprechen, nicht ganz wohl. Oder es kam mir bei vermeintlichen Verhaltensversprechen anderer irgendetwas noch nicht stimmig vor. Der Grund dafür, wie ich nun herausgefunden habe, war ein Mangel an zeitlicher Präzision. Da war zwar eine Tätigkeit statt eines Ergebnisses im Gespräch, nur war die unverbindlich. Es fehlte das Commitment.

Beim Ergebnisversprechen besteht das Commitment in der Verknüpfung von Zustand mit Budget. Ich formalisiere das mal als Tupel: (Zustand, Budget), z.B. (Repariertes Auto, 2 Stunden Aufwand).

Das Commitment des Versprechens muss die Tätigkeit auch mit etwas verbinden. Es gibt zwar kein fixes Budget, aber eine Ressource muss eingesetzt werden. Da Ressourcen jedoch kaum vollständig zur Verfügung stehen, geht es allgemeiner um einen Ressourcenanteil, z.B. (Bug fixen, 10% meiner Arbeitszeit).

So sieht das minimale Verhaltensversprechen aus: Sie versprechen, einen gewissen Prozentsatz Ihrer Zeit auf eine Aktivität zu konzentrieren. Das tun Sie so lange, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist - oder ein anderer Zustand, der eine Meldung und ggf. eine Neuorientierung erfordert.

Wenn Sie dem Auftraggeber schon nicht sagen können, dass Sie das gewünschte Ergebnis mit einem Budget verlässlich herstellen können, dann sichern Sie zumindest zu, sich mit einer gewissen Kraft darum zu kümmern. Wie viel Kraft das ist, muss verhandelt werden.

Sie haben natürlich mehr auf dem Zettel als einen Auftrag. Deshalb müssen Sie den Ressourceneinsatz genau formulieren. Wenn es um Zeit geht, sind drei Angaben nötig:

  1. Wann beginnen Sie mit der Tätigkeit?
  2. Wie viel Prozent Ihrer Zeit widmen Sie der Tätigkeit?
  3. Wie dicht ist Ihr Einsatz gepackt?

Auftraggeber wünschen sich natürlich, dass Sie sofort mit einer Tätigkeit beginnen. Sie wollen das Ergebnis schnellstmöglich. Kommt jedoch ein zweiter Auftrag herein, während der erste noch nicht abgeschlossen ist, führt dessen sofortiger Beginn zu einer Unterbrechung des ersten. Schädliches Multitasking nimmt seinen Lauf. Alles dauert länger, Ergebnisse werden später geliefert. Vermeiden Sie das! Staffeln Sie Aufträge, beginnen Sie sie nacheinander.

Auftraggeber wünschen sich natürlich ebenfalls, dass Sie 100% Ihrer Zeit der gewünschten Tätigkeit widmen. Sie wollen das Ergebnis schnellstmöglich. Das ist nur möglich, wenn Sie immer nur einen Auftrag bearbeiten, bis das Ergebnis erzielt ist. Eine solche Staffelung ist jedoch nicht immer möglich und gelegentlich sogar unökonomisch. Immer wieder gibt es durch Abhängigkeiten Wartezeiten während der Bearbeitung eines Auftrags. Warum die nicht mit anderen Aufträgen füllen? Bis zu einem gewissen Grad ist solches Multitasking bekömmlich. Sie können Ihre Zeit also auch in Teilen versprechen. Aber Achtung: Zu klein sollten diese Teile nicht werden. Ich würde sagen, kürzer als 45–60 Minuten sollten Bearbeitungseinheiten nicht sein. Versprechen Sie also nicht weniger als 10% Ihrer Zeit.

Weder bei 100%iger Auslastung mit einem Auftrag noch bei weniger können Sie sagen, wie lange es dauern wird, bis das gewünschte Ergebnis hergestellt ist. Deshalb geben Sie ja ein Verhaltensversprechen. Es kann daher sein, dass Sie nicht mit einem Zeitblock an einem Tag auskommen. Aber wann widmen Sie sich dann wieder dieser Tätigkeit? Das könnte morgen sein oder erst übermorgen oder nächste Woche. Das sollten Sie ebenfalls dem Auftraggeber kommunizieren.

Beispiel 1, “Ich werde mich ab heute jeden Tag 2 Stunden mit dem Thema beschäftigen.”: Hier versprechen Sie 25% Ihrer Zeit einzusetzen. Die Dichte ist 100%, da das jeden Tag geschieht.

Beispiel 2, “Ich werde jede Woche 4 Stunden X tun.”: Hier versprechen Sie 10% Ihrer Zeit für X aufzuwenden - allerdings nicht jeden Tag, sonder vielleicht einmal die Woche en bloc. Deshalb ist die Dichte in Bezug auf Tage nur 20%.

Formal ist ein Verhaltensversprechen also ein 4-Tupel der Form (Tätigkeit, Startzeitpunkt, Zeitanteil, Dichte), z.B. (Anforderungen analysieren, morgen 13:00h, 4 Stunden (50%), täglich (100%)).[2]

Für ein Versprechen auf dem Gang zwischen Tür und Angel ist das natürlich ein bisschen zu detailliert. Aber wenn Sie etwas mehr Zeit haben oder für die Reflexion ist solche Differenziertheit nützlich, finde ich.

Wenn Ihnen jetzt etwas mulmig wird, kann ich das verstehen. Wie sollen Sie denn eine bestimmte Intensität der Beschäftigung mit einem Auftrag versprechen können. Was wissen Sie über Ihren Kalender morgen oder nächste Woche? Aber genau das ist die Handwerkskunst, die mindestens nötig ist, wenn wir vertrauensvoll und verlässlich zusammenarbeiten wollen. Als Wissensarbeiter müssen Sie Meister des Zeitmanagements sein. Nicht weniger. So sieht die Grundkompetenz für die Zusammenarbeit jenseits handwerklicher Arbeiten aus. Das kann ich nicht schonend formulieren. Wer seine Zeit, seinen Kalender nicht im Griff hat, hat schon verloren. Der ist verdammt zu nicht endendem Stress.

Merke: Verhaltensversprechen sind jederzeit möglich!

Handfeste Prioritäten

Ständig konkurrieren mehrere Aufträge um eine Verarbeitungsressource. Das kann eine Person, ein Team, ein Unternehmen, eine Maschine sein. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Ressource diesen Aufträgen widmen sollte.

Mit der differenzierten Sicht auf Verhaltensversprechen ist es möglich, darüber handfest mit den Auftraggebern zu sprechen. Die können sich nun entscheiden, in welchen Aspekt sie investieren wollen, um die Abarbeitung eines Auftrags zu beschleunigen, d.h. höher zu priorisieren:

  1. Der Auftraggeber kann Argumente liefern, warum ein Auftrag möglichst bald begonnen werden soll. Je früher, desto höher die Priorität. Insbesondere, wenn dadurch andere Aufträge unterbrochen werden müssten, sind gute Argumente nötig.
  2. Der Auftraggeber kann Argumente liefern, warum für die Abarbeitung eines Auftrags ein möglichst großer Prozentsatz der Ressourcenzeit pro Zeiteinheit alloziert werden sollte. Mehr Anteil, desto höher die Priorität. Insbesondere, wenn dadurch der Anteil für andere schon begonnene Aufträge verringert werden soll, sind gute Argumente nötig.
  3. Der Auftraggeber kann Argumente liefern, warum die Anteilsdichte möglichst hoch sein sollte. Je höher die Dichte, desto höher die Priorität. Insbesondere, wenn dadurch die Dichte für die Abarbeitung anderer Aufträge sinken würde, sind gute Argumente nötig.

Höchste Priorität hat, was sofort mit 100% der Zeit und 100% Dichte begonnen wird. Da gibt es kein Vertun. Das ist wünschenswert, um schnellstmögliche Ergebniserzielung zu erreichen. Das ist Work-in-Progress (WIP) = 1. Das ist erstrebenswert, weil nur so die Verschwendung minimal ist. Feedback wird maximal schnell generiert.

Aus verschiedenen Gründen mag es aber doch sinnvoll sein, mehrere Aufträge quasi gleichzeitig zu bearbeiten, also Multitasking zuzulassen.

Deshalb werden Sie Aufträgen eher selten 100% Anteil gewähren. Seien Sie jedoch vorsichtig! Erstens sollten Sie ohnehin nie 100% Ihrer Zeit verplanen; lassen Sie eher 30–40% Luft als Puffer für Unvorhergesehenes. Zweitens sollten Sie die Anteile nicht zu klein schneiden; unter 1 Stunde lohnen sich viele Tätigkeiten nicht. Sie brauchen zu lange, um (wieder) reinzukommen. Es ergibt sich, dass Sie pro Tag maximal 3–4 verschiedene Aufträge sinnvoll bearbeiten können.[3]

Dasselbe gilt für die Dichte. Eine zu geringe Dichte ist dem Fortkommen eines Auftrags und der Bearbeitungsqualität abträglich. Streben Sie eine Dichte von 100% an. Bringen Sie Aufträge jeden Tag bis zum Abschluss voran, wenn schon nicht mit 100% Anteil. Wenn die Dichte darunter sinkt, dann nur weil externe Abhängigkeiten das erfordern. Wenn Sie auf Zuarbeiten warten müssen, hilft es nichts, dass Sie schon morgen weitermachen wollen. Dann sichern Sie nur eine geringere Dichte zu. Aber vermeiden Sie, bei Eintreffen von Ergebnissen sofort zur unterbrochenen Aufgabe zurückzukehren. Tun Sie das erst, wenn sie laut Anteil und Dichte wieder in Ihrem Plan dran ist.

Teileweise arbeiten

Versprechen zu halten ist schon schwer genug, auch Verhaltensversprechen. Versprechen über lange, gar unbestimmt lange Zeit zu halten, ist aber noch schwerer. Versuchen Sie daher, Aufträge, deren Budget sie nicht kennen, aber deren Größenordnung Ihnen ungefähr klar ist und jenseits von 7–10 Tagen liegt, in kleinere Teilaufträge von max. einer Woche zu zerlegen.

Große Aufträge liegen schwer in Ihrem Kalender. Sie wirken immobilisierend. Sie verlieren mit ihnen die Fähigkeit, auf Änderungen zu reagieren.

Suchen Sie in großen Aufträgen daher “Sollbruchstellen”, die für den Auftraggeber Sinneinheiten darstellen. Statt einer langen Verhaltensstrecke mit Blick auf das ultimative Ergebnis stecken Sie lieber Teilstrecken für Teilverhalten mit Teilergebnissen ab.

Das gibt nicht nur Ihnen Flexibilität und erhöht Ihre Verlässlichkeit. Auch Auftraggeber bekommen die Möglichkeit, sich nach der Erarbeitung von Teilergebnissen wieder neu zu entscheiden.

Pacta sunt servanda

“Versprochen ist versprochen!” Wenn Sie Ergebnisse oder Verhalten versprechen, dann müssen Sie wie versprochen leisten. Schon die Römer wussten, dass das ein Grundpfeiler für Zivilisation ist und sagten “pacta sund servanda”, Verträge müssen eingehalten werden.

Solange Sie jedoch im Dialog mit dem Auftraggeber stehen, können Sie bei Bedarf nachverhandeln. Versprechen können verändert werden, wenn alle beteiligten Parteien dem zustimmen.

So eine Nachverhandlung erhält die Verlässlichkeit allerdings nur, wenn Sie ein Nein akzeptieren können. Veränderungswünsche sind Bitten, die abgelehnt werden können.

Beispiel: “Ich weiß, ich habe Ihnen den Bericht für 13:00h zugesagt - aber nun würde ich gern dem Kollegen bei einem dringenden Auftrag helfen. Dadurch würde sich die Berichtsabgabe bis 15:00h verzögern. Ist das ok?” Die Frage zu stellen, ist völlig legitim. Dadurch brechen Sie kein Versprechen. Doch wenn der Auftraggeber Nein sagt und sie nach 13:00h liefern, sind Sie unzuverlässig.

Merke: Ergebnisversprechen führen häufig zu Nachverhandlungen. Versprechen Sie daher lieber ein Verhalten.

Merke: Alle Versprechen können im gegenseitigen Einvernehmen modifiziert werden.

Aber Vorsicht: Auch wenn Versprechen grundsätzlich nachverhandelt werden können, sollte das die Ausnahme sein. Wenn Sie ein Versprechen abgeben, versprechen Sie nämlich auf zwei Ebenen. Ebene 1 ist die offensichtliche; Sie versprechen z.B. etwas zu tun. Ebene 2 liegt unausgesprochen darunter. Auf der Versprechen Sie, das Versprechen genau so einzuhalten, also eben nicht ständig nachzuverhandeln. Denn ein Versprechen soll ja Ruhe in die Zusammenarbeit bringen. Es soll damit eine Sache vorläufig abgeschlossen werden. Mentale Ressourcen sollen frei werden. Dieser Zweck würde durch ständige Nachbesserungen torpediert.

Promise Like a Pro

Versprechen scheinen so einfach. Wir versprechen ja schon als Kinder. Formal sind sie auch einfach. Sogar so einfach, dass wir sie oft unbewusst und leichtfertig abgeben. Wir sind uns über die Tragweite nicht im Klaren. Und wir haben nicht gelernt, mit diesem wichtigen Werkzeug der Zusammenarbeit systematisch umzugehen. So interpretiere ich jedenfalls das, was ich in Unternehmen sehe: die Unzuverlässigkeit grassiert im Kleinen wie im Großen. Die Effekte: Stress, Demotivation, hohe Kosten.

Wenn wir diese Effekte nicht wollen, dann müssen wir Zuverlässiger werden. 100% aller Versprechen müssen eingehalten werden. Ja, das ist möglich, wenn Sie bewusst und vorsichtig und manchmal mutig sind. Schauen Sie genau hin, ob Sie all die Ergebnisse wirklich versprechen wollen und können und müssen, zu denen Sie sich jeden Tag committen. Wählen Sie bewusst immer öfter Verhaltensversprechen. Und bekommen Sie Ihre Zeit in den Griff! Wenn Sie keine Hoheit über diese ultimativ knappe Ressource Ihres Lebens haben… dann sollten Sie das als erstes ändern.

Für mehr Vertrauen, für mehr Zuverlässigkeit müssen wir Profis des Versprechens werden. Der Slogan für mich ist: Promise Like a Pro. Das ist die Voraussetzung für “Gets things done”.


  1. Das ist natürlich eine Unart und darf nicht sein. So simple Dinge müssen wir 100% unter unserer Kontrolle haben. Wer einen Anruf verspricht, muss anrufen. Wer eine Email-Adresse herausgibt, muss antworten.

  2. Um genau zu sein, gehört zu einem Ergebnisversprechen auch ein Startzeitpunkt: (Zustand, Startzeitpunkt, Budget), z.B. “Ich werde für das Bug fixing 4 Stunden brauchen - und morgen um 8:00h damit beginnen.” Doch insbesondere bei ad hoc Versprechen ist der Startzeitpunk uninteressant. Dann geht es nur um den Liefertermin. Das Budget ist also der Zeitraum ab Versprechensabgabe bis dahin. Deshalb habe ich den Startzeitpunkt oben nicht aufgeführt. Für Verhaltensversprechen ist er wichtiger, da sie keinen Liefertermin haben.

  3. Ich spreche hier nicht über ein Call Center mit Anrufdauern von 3 Minuten. Das wäre auch handwerkliche Arbeit. Es geht um Wissensarbeit, zu deren Erledigung in den meisten Fällen mehrere Stunden, Tage, gar Wochen nötig sind. Dass Sie darüber hinaus noch eine Menge “Kleinscheiß” zu tun haben, ist klar. Damit müssen Sie gesondert umgehen. Die Tagesplanung ist aber nicht Thema dieses Artikels.

Samstag, 4. April 2015

Unschätzbare Arbeitsweisen

Wer über das Thema Schätzen reden will, muss zunächst eine klare Vorstellung davon haben, was denn da eigentlich geschätzt werden soll. Das ist interessanterweise aber nicht der Fall.

Viel wird über Anforderungen gesprochen. Aber wenig über die Arbeit, die die Anforderungen in lauffähigen Code transformieren soll. Das scheint nicht nötig, weil es doch sonnenklar ist: das ist Codierung. Und in der Codierung haben die Entwickler doch viel Erfahrung. Das ist ihr Job. Also sollten sie auch schätzen (oder eher berechnen) können, wie lange die Umsetzung der nächsten Anforderungen dauert.

Nichts könnte jedoch weiter von der Realität entfernt sein. Es ist zwar richtig, dass Softwareentwickler “Männer, die auf Code starren” sind - doch deshalb ist Softwareentwicklung nicht gleichzusetzen mit Codierung, d.h. mit dem Schreiben von Code.

Manager, Kunden, Laien, selbst Softwareentwickler haben ein zu simples Verständnis für das, was Softwareentwicklung ist. Kein Wunder, dass sich aus dem dann eine Forderung ableitet, die nicht zu erfüllen ist, nämlich die der Vorhersage von Aufwänden für die Umsetzung von Anforderungen.

Und leider tut die Softwareentwicklung nicht viel dafür, ihr Bild zu korrigieren. Wer sich “Software Craftsman” nennt, darf sich nicht wundern, wenn man von ihm wie von jedem anderen Handwerker ein genaues Angebot haben will. Da nützt die ganze Beschwörung von Qualität und Berufsehre nichts. Selbstverständlich sollen Handwerker Qualität liefern - aber bitteschön zum vorher festgelegten Termin und fixen Kosten.

Wenn das der Software-Handwerker nicht schafft… dann ist die Enttäuschung verständlicherweise groß. Dabei kann es nicht anders gehen. Der Software-Handwerker muss in dieser Hinsicht enttäuschen. Das liegt in der Natur seiner Arbeit. Er ist nämlich kein Handwerker. Das muss er nur selbst verstehen.

Weisen der Arbeit

Alle Arbeit ist nicht gleich. Nicht nur die Bandbreite ihrer Inhalte ist riesig. Sie unterscheidet sich auch noch fundamentaler in der Weise, wie sie verrichtet wird. Damit meine ich nicht schnell oder sorgfältig, sondern noch grundlegender eine Haltung, einen Anspruch, einen Zweck.

Die uns vertrauteste Arbeitsweise ist die, bei der ein Auftrag zügig und geradlinig umgesetzt wird. Da gibt es kein Zögern, da ist alles klar, da wird zugepackt und das Ergebnis nach allen Regeln der Kunst hergestellt. So stellt ein Bäcker Brötchen her, so repariert ein Schuster Schuhe, ja, selbst ein Musiker spielt so ein Repertoirestück.

Diese Arbeitsweise nenne ich handwerklich. Als Handwerker sind Vorgabe und Ziel klar. Ebenso klar ist es für den Handwerker, mit welchen Methoden, Materialien und Werkzeugen er sie umsetzt.

Handwerker sind dabei für mich jedoch nicht nur Berufstätige mit einem Gesellen- oder Meisterbrief. Nein, jeder Mensch ist Handwerker. Immer wieder über den Tag verteilt. Wenn Sie morgens ein Brot schmieren, dann sind sie Handwerker. Wenn Sie Wäsche waschen, sind Sie Handwerker. Selbst wenn Sie Ihrem Kind etwas vorlesen, sind Sie Handwerker.

Handwerker haben ein Handwerk gelernt. Sie haben im Umgang mit Methoden, Materialien und Werkzeugen in unterschiedlichsten Situationen Erfahrungen gesammelt. So ist die nächste Situation für sie kaum eine Überraschung. Sie wissen, was zu tun ist.

Die Aufgabe des Handwerkers ist es, Vorgaben/Pläne/Entwürfe in nutzbare Ergebnisse zu überführen. Handwerker stellen her. Das sogar immer wieder. Sie sind grundlegend reproduzierend tätig. Sogar so sehr, dass sich ihre Arbeit erst taylorisieren und dann automatisieren lässt. Industrielle Fertigung ist Handwerk on steroids.

Aber natürlich sind wir nicht den ganzen Tag Handwerker. Das können wir nämlich nur sein, wenn erstens die Vorgaben klar sind und wir zweitens für die Umsetzung viel Erfahrung haben. Insbesondere die Vorgaben fehlen jedoch oft. Es gibt keinen Plan.

Planen ist jedoch eine andere Arbeitsweise als handwerkern. Sie ist fundamental kreativ. Denn planen, entwerfen, designen erschafft ein Bild von etwas Neuem. Einen Tisch nach Plan zu bauen, ist etwas anderes, als den Plan für einen Tisch zu entwerfen. Vorher war da keine Vorstellung von einem Tisch, jetzt ist sie da - zunächst nur auf Papier, aber immerhin.

Es ist die Aufgabe von Ingenieuren, zu planen, zu entwerfen, zu konstruieren. Handwerker bauen, Ingenieure “erfinden” (vlg. dazu auch “Discussion of the Method” von B. V. Koen).

Und wieder meine ich damit nicht Berufsgruppen, sondern eben Arbeitsweisen, in denen jeder Mensch Tag für Tag tätig ist. Wenn Sie Ihren Tag planen, sind Sie Ingenieur. Wenn Sie sich überlegen, wie der Weihnachtsbaum in diesem Jahr geschmückt werden könnte, sind Sie Ingenieur. Genauso, wenn Sie sich Gedanken darüber machen, wie Sie am besten ein Bewerbungsschreiben strukturieren.

Ingenieure erdenken Neues, Handwerker manifestieren Neues. So kurz kann man es fassen.

Beide Arbeitsweisen brauchen jedoch ein Fundament. Das besteht aus Kenntnissen, Wissen, Erfahrung. Das zu erarbeiten, braucht wiederum eine andere Arbeitsweise: das Forschen.

Es ist die Aufgabe von Forschern, Wissen zu produzieren. Damit bringen sie jedoch nichts Neues in die Welt, sondern beschreiben vielmehr “nur”, wie die Welt ist.

Um Forscher zu sein, muss man freilich nicht studieren. Jeder Mensch ist Forscher. Wenn Sie die Bedienungsanleitung des neuen Fernsehers studieren, forschen Sie. Wenn Sie Tagebuch schreiben, erforschen Sie sich selbst. Wenn Sie Schlittschuhlaufen lernen, forschen Sie ebenfalls.

Lernen ist Forschung. Analyse ist Forschung. Sie können es nicht vermeiden, jeden Tag aufs neue die Welt zu erforschen. Ganz grundsätzlich ist dafür kein spezielles Werkzeug und schon gar kein Doktorgrad nötig. Blindes trial and error reicht aus - aber mit etwas mehr Systematik mag es schneller gehen.

Forscher liefern die Grundlagen, Ingenieure entwerfen darauf aufbauend Neues und Handwerker stellen es her.

Arbeitsweisenverhältnisse

Vielleicht gibt es noch weitere fundamentale Arbeitsweisen. Aber auch langes Nachdenken hat sie mir nicht entdeckt. Einstweilen fühle ich allerdings auch kein Defizit. Die drei Arbeitsweisen Handwerker (H), Ingenieur (I) und Forscher (F) machen es mir leicht, Berufe und Tätigkeiten ganz unterschiedlicher Art zu erklären. Es kommt nämlich auf das Mischungsverhältnis an.

Jede Arbeit setzt sich aus H, I, F zusammen, wie Farben sich aus unterschiedlichen Anteilen von Rot (R), Grün (G) und Blau (B) ergeben.

Zunächst die zu den Arbeitsweisen gehörenden Berufsgruppen:

  • Handwerksberufe: Als Handwerksberufe - Klempner, Tischler, Bäcker usw. - bezeichnen wir solche, bei denen die Arbeit einen überwiegenden Anteil von H hat. I und F kommen auch vor, aber definieren die Arbeit nicht; der HIF-Code ist für mich (80%/10%/10%). Beispiel 1: Natürlich muss ein Bäcker, wenn er eine Hochzeitstorte backen soll, zuerst die Wünsche des Hochzeitspaares erfahren (F). Dann muss er die eine oder andere Idee zu deren Erfüllung entwickeln (I). Letztlich jedoch wird der größte Teil der Arbeit in die Herstellung fließen (H). Beispiel 2: Der KfZ-Mechaniker muss bei einer Inspektion den Zustand eines Wagens prüfen (F). Eine Reparatur oder Wartungsarbeit (H) macht dann jedoch das aus, was wir mit diesem Beruf vor allem verbinden.
  • Ingenieursberufe: Wie die Bezeichnung sagt, liegt in Ingenieursberufen - Elektrotechniker, Maschinenbauer usw. - der Schwerpunkt auf I. Natürlich müssen Ingenieure auch forschen, z.B. wenn sie verstehen wollen, was eigentlich ihr Auftrag ist. Und Ingenieure legen auch Hand an, wenn sie z.B. Prototypen bauen (H). Letztlich geht es jedoch um den Entwurf des Neuen, die “Erfindung”. Es soll etwas erdacht werden, das es vorher noch nicht gab (I). HIF-Code (10/80/10).
  • Wissenschaftler: Wissenschaftler schaffen Wissen (F). Das ist ihr Auftrag. Dafür müssen sie natürlich auch einen Versuchsaufbau entwerfen (I) oder sogar Daten nach den Regeln der mathematischen Kunst auswerten (H). Doch unterm Strich ist das, was sie tun, ihr Zweck, die Ermittlung dessen, was schon ist. Das fassen sie in Worte - so dass andere Wissenschaftler, aber auch Ingenieure und Handwerker darauf aufbauen können. HIF-Code (10/10/80).

Das war einfach und naheliegend, oder? Die Berufsgruppen, von deren Namen die Arbeitsweisen abgeleitet sind (oder umgekehrt?), konzentrieren sich jeweils zu vielleicht 80% auf die sie bezeichnende Arbeitsweise. Wie ein RGB-Code eine Farbe, so bezeichnet die Mischung der HIF-Werte einen Beruf.

Das lässt sich weiterspinnen. Hier die Mischungsverhältnisse für weitere “Berufsgruppen”, wie ich sie sehe:

  • Kunsthandwerker: Wenn der Handwerker-Code HIF(80/10/10) lautet, dann hat der Kunsthandwerker HIF(50/30/20). Er setzt nicht einfach nur einen Entwurf handwerklich um, sondern fertigt diesen Entwurf auch an (I). Außerdem muss er “die Welt” beobachten, um herauszufinden, was ihr gefallen könnte (F).
  • Künstler: Auch wenn es heißt “Kunst kommt von Können”, so ist der Künstler nicht vordringlich ein Handwerker. Ich sehe seinen HIF-Code eher bei (30/30/40). Der Künstler will die Welt darstellen, das Wahre herausarbeiten. Dazu muss er sie intensiv studieren (F) und dann eine geeignete Abbildung entwerfen (I). Die handwerkliche Umsetzung ist dann nur noch der kleinere Teil - den große Künstler immer wieder ihren Assistenten überlassen haben.
  • Virtuose: Den Virtuosen sehen wir als Künstler. Für mich ist er jedoch eher ein Handwerker. Er muss zwar das Material, das er darbietet, gründlich erforschen und dann seine Interpretation erarbeiten. Doch das, worauf es ankommt, ist am Ende die Reproduktion. Also sehe ich hier einen HIF-Code von (50/20/30).
  • Chirurg: Chirurgen sind weitestgehend Handwerker. Dass sie lange studiert haben und die Sache komplizierter ist als eine Autoreparatur, ändert daran nichts. Ich sehe das HIF-Verhältnis so: (70/20/10). Ein wenig Forschung ist noch nötig, um zu erkennen, was wirklich das Problem des Patienten ist (F) - manchmal auch noch während der OP. Dann wird die beste Herangehensweise entworfen (I). Die Operation schließlich besteht im Ausführen von lange geübten Handgriffen entlang anerkannter Pfade. Kaiserschnitt, Herzklappentransplantation, Billroth-II-Resektion, Staroperation, Hernienoperation… das alles tut man überall auf der Welt gleich. Und manches wird schon quasi am Fließband erledigt.
  • Hausmeister: Der Hausmeister ist im Wesentlichen ein Handwerker. Er tut, was er kann, selbst. Aber er ist andererseits auch für Gebäude verantwortlich. Daher muss er zuvor analysieren/beobachten (F) und dann das richtige Vorgehen planen (I) - bei dem ihm Handwerker helfen. Ich sehe den HIF-Code bei vielleicht (60/20/20).
  • Sportler: Man könnte meinen, ein Sportler sei ein Handwerker. Im Wettkampf ist er das auch. Aber die meiste Zeit performt er nicht, sondern trainiert. Und dazu gehört viel Forschung und Entwurf. Strategien wollen erarbeitet werden (I), die eigenen Leistungsparameter müssen erkundet werden (F). Sportler lernen ständig. Für mich ist der HIF-Code bei (50/20/30) - und das passt schön zum Virtuosen. Der Sportler als Virtuose des Körpers.
  • Schüler: Schüler sind zuallererst Forscher. Ihre Aufgabe ist es, Wissen aufzubauen. Lernen bedeutet, das zu beherrschen, was schon in der Welt ist. Also ein HIF-Code von (10/10/80).
  • Lehrer: Lehrer hingegen sind eher Ingenieure. Ihre Aufgabe ist es, Pläne dafür zu entwickeln, wie Schüler am besten lernen. Das entspricht eher HIF(30/50/20).

Natürlich sind die HIF-Anteile ständig im Fluss. Mir geht es auch nicht um exakte HIF-Verhältnisse. Die Idee der Mischungsverhältnisse ist das Entscheidende. Dass eben Arbeit überhaupt durch unterschiedliche Anteile an H, I und F charakterisiert ist. Nicht nur die professionelle Arbeit, sondern auch das, was wir täglich tun. Jeder Tag zuhause ist eine neue Mischung aus H, I und F.

Zum Abschluss nun das Mischungsverhältnis, das Sie wahrscheinlich am meisten interessiert. Wie sind H, I und F bei der Softwareentwicklung verteilt? Ich sehe das so:

  • Softwareentwickler: Softwareentwickler sind anders als andere. Als hätten wir das nicht immer gewusst ;-) Ich sehe einen HIF-Code von (20/40/40). Handwerker im Sinne der obigen Definition sind Softwareentwickler nur zu einem kleinen Teil. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf Forschung und Ingenieursarbeit. “Software Engineering” ist also treffender als “Software Craftsmanship” - und liegt trotzdem daneben. Denn anders als bei der Berufsgruppe Ingenieur besteht Softwareentwicklung nicht zu 80% aus Ingenieursarbeiten, sondern teilt sich die 80% mit der Forschung. Das eben macht den Charakter der Softwareentwicklung aus. Es ist viel zu forschen: Kundenwünsche müssen analysiert werden, Technologien müssen evaluiert und erlernt werden, dito Paradigmen und Methoden. Vor allem ist jedoch Quellcode ständig zu studieren, bevor daran Änderungen angebracht werden können. Nach der Forschung kommt der Entwurf. Der findet immer statt, auch wenn Sie nie am Flipchart stehen und UML-Diagramme malen. Softwareentwickler machen sich zunächst immer irgendwelche Gedanken darüber, wie der Code aussehen sollte, bevor sie ihn schreiben. Im Großen wie im Kleinen. Da werden APIs entworfen oder Testreihenfolgen bestimmt. Daten(bank)strukturen werden entworfen. Algorithmen und Lösungsansätze ebenso. Und erst ganz zum Schluss gießt die Softwareentwicklung diese Entwürfe in Code. Da ist dann Handwerk gefragt.

Das HIF-Mischverhältnis der Softwareentwickler ist dem der Künstler am nächsten. Künstler arbeiten sehr iterativ. Künstler machen Prototypen. Künstler können sehr detailverliebt sein. Künstler schauen genau hin. Der eine oder andere mag also ausrufen “Siehste! Das habe ich doch gewusst!”

Dennoch sind Softwareentwickler keine Künstler. Ihre Aufgabe ist schlicht eine andere: Der Künstler soll Wahrheit ausdrücken, die Softwareentwicklung nützliche Werkzeuge herstellen. Das Produkt des Künstlers ist irgendwann fertig und wird nicht weiter verändert. Software hingegen kommt nie zur Ruhe. Von der Analogie “Softwareentwickler sind wie Künstler” halte ich unterm Strich also nichts.

(Un)Schätzbarkeit

So viel der Vorbereitung. Softwareentwicklung (wie auch alle anderen Arbeiten) ist eine Kombination aus drei grundsätzlichen Arbeitsweisen.

Diese drei Arbeitsweisen sind nicht nur in ihren Ergebnissen sehr unterschiedlich, sie lassen sich auch unterschiedlich gut schätzen.

Die handwerkliche Arbeitsweise lässt sich gut abschätzen. Sie ist wenig kreativ. Handwerk arbeitet reproduktiv. Das ist im Grunde sogar seine Definition. Deshalb gibt es auch so viel mehr berufliche Handwerker als Ingenieure und Wissenschaftler. Nicht umsonst ist der Anspruch an jeden Handwerker, einen treffenden Kostenvoranschlag machen zu können, wenn es um die Reparatur einer Heizung geht oder den Bau eines Wintergartens.

Anders ist es für die Arbeitsweise Ingenieur. Die ist hochkreativ. Hier wird “erfunden”. Hier findet Problemlösung statt. Und niemand weiß, wie lange das dauert. Ingenieure entwickeln schließlich Neues. Das braucht Versuch und Irrtum. Dafür gibt es keine berechenbare Geschwindigkeit. Ingenieursarbeit lässt sich mithin nicht schätzen. Oder wenn, dann nur in sehr grobem Rahmen auf der Ebene von Größenordnungen.

Dasselbe gilt für die Arbeitsweise Forschung. Wie lange die Analyse eines steinzeitlichen Grabes dauert, wie viel Aufwand die Erforschung der Kernfusion brauchen wird, wann man die Kundenanforderungen wirklich verstanden hat… das alles lässt sich nicht vorher abschätzen. Oder eben nur wieder auf der Ebene von Größenordnungen.

Das bedeutet für die Softwareentwicklung:

Mit einem HIF-Code von (20/40/40), also 80% Ingenieurs- und Forschungstätigkeit, ist Softwareentwicklung nicht sinnvoll schätzbar.

Manager, Kunden, Laien und auch viele Softwareentwickler glauben, Softwareentwicklung sei vor allem Handwerksarbeit. Deshalb wird immer wieder ein “Kostenvoranschlag” gefordert. Für einen gegebenen Scope (Anforderungen an Funktionalität und Effizienz) soll berechnet werden, wie viel Zeit und damit Geld zur Umsetzung gebraucht werden.

Für eine handwerkliche Leistung eine ganz selbstverständliche Frage. Nur leider ist Softwareentwicklung wenig handwerklich. Deshalb sind die Antworten unbefriedigend und immer wieder sehr weit von der Umsetzungsrealität entfernt. Das Resultat: Streit, Druck und mangelnde Qualität.

Aufgrund einer falschen Prämisse entsteht eben kein korrektes Ergebnis.

Kunden können nicht einschätzen, wie viel Analyse und Entwurf für die Umsetzung von Anforderungen nötig sind. Dass es sich um eine handwerkliche Tätigkeit handle, ist eine Annahme aus Unverständnis bis Ignoranz. Softwareentwickler können die Anteile auch nur sehr schwer abschätzen - und unterschätzen sie regelmäßig. Softwareentwickler sind übertrieben selbstbewusst oder naiv, was ihre Erfahrung in puncto Tools, Technologien, Paradigmen, Methoden oder schlicht das Verständnis des teameigenen Quellcodes angeht. Vom Verständnis der Anforderungen ganz zu schweigen.

Hinzu kommt die Arbeitsatmosphäre in vielen Projekten. Sie ist geprägt von Unterbrechungen aller Art. Selbst bei halbwegs realistischer Einschätzung des Aufwandes kann kaum gesagt werden, wie lange es dauert, bis er erbracht ist. Dringendes aller Art schiebt sich ständig zwischen die konzentrierte Arbeit an einer abgeschätzten Aufgabe.

Das bedeutet unterm Strich:

Abschätzungen von Softwareentwicklungsaufwänden funktionieren nicht - solange der handwerkliche Arbeitsanteil nicht klar erkennbar deutlich überwiegt und für die Dauer der Umsetzung Störungsfreiheit zugesichert werden kann.

Wie oft ist das aber der Fall? Ich halte das für eine Ausnahme. Es ist nicht unmöglich, doch so selten, dass darauf kein ethisches Geschäftsmodell aufgebaut werden kann.

Handlungsempfehlung

Für Ihre Entwicklungspraxis ergeben sich Konsequenzen aus dieser Analyse. Wenn Sie ehrlicher und ruhiger und mit höherer Qualität arbeiten wollen, dann sollten Sie bei der nächsten Aufforderung zur Abgabe einer Schätzung folgende Schritte durchlaufen:

  1. Machen Sie sich und dem Auftraggeber klar, dass keine Schätzung gefordert wird, sondern ein “Kostenvoranschlag”, d.h. eine Berechnung mit der Genauigkeit von 5–10% in Bezug auf Kosten und Termintreue. Man glaubt ja, Sie seien Handwerker.
  2. Werden Sie zum Forscher: Analysieren Sie die Anforderungen im Hinblick auf die für die Umsetzung wahrscheinlichen Aufwände an Forschung und Entwurf. Seien Sie schonungslos ehrlich zu sich und dem Auftraggeber. Vertuschen Sie keine Unsicherheiten. Legen Sie das bekannte Unbekannte (also zu Erforschende) auf den Tisch. Bemühen Sie sich außerdem, weiße Flecken, also das unbekannte Unbekannte zu identifizieren.
  3. Weisen Sie die Schätzung zurück, solange der Handwerksanteil bei der Umsetzung geringer als 80% ist.

Seien Sie transparent, was diese Schritte angeht. Erklären Sie dem Auftraggeber Ihre Haltung. Die ist differenziert und offen und realistisch - auch wenn sie ihm nicht gefällt. Geben Sie ihm womöglich diesen Artikel zu lesen. Er darf mich auch gern kontaktieren für Nachfragen :-)

Ich behaupte nicht, dass diese Haltung einzunehmen leicht für Sie ist. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie in Übereinstimmung mit der Natur von Softwareentwicklung und insofern ehrlich und ethisch ist.

PS: Softwareentwicklung als Ganzes halte ich übrigens für eine Forschungstätigkeit. Der Zweck der ganzen Entwicklungsarbeit ist die Erforschung dessen, was den Kunden befriedigt. Das weiß der Kunden nämlich selbst nur sehr ungenau. Mit jedem Release lernt er sich besser kennen. Durch Versuch und Irrtum nähert er sich dem an, was wirklich hilft. Das ist Forschung. Um diesen Zweck zu erfüllen, arbeitet der Entwickler mit HIF(20/40/40).

Sonntag, 8. Februar 2015

Co-location als kontraproduktiv erachtet

Wo ein Entwicklungsteam noch an einem Ort sitzt, sollte es verteilt werden. Entwicklungsteams, die gebildet werden sollen, fangen am besten gar nicht erst an, sich an einem Ort zu versammeln. Verteilte Teams sollten der Default sein.

imageDie Sonne lacht in Hamburg, ein frischer Wind weht an der Alster. Ein guter Tag, um sich unbeliebt zu machen :-) Deshalb diese Vorschläge. Irgendwann muss ich damit mal raus. Warum nicht heute?

Ja, so denke ich inzwischen immer mehr. Co-location ist ein Problem.

Aber der Reihe nach:

Im Jahr 2001 wurde das Agile Manifest unterzeichnet von 17 umtriebigen Geistern - alle weiß, männlich, vor allem Amerikaner und im Durchschnitt zu dem Zeitpunkt wohl um die 50 Jahre alt. Das sage ich so, weil ich glaube, dass wir Agilität wie sie seitdem von den Unterzeichnern gepredigt und von anderen übernommen wurde, davon nicht unabhängig sehen dürfen. Die Unterzeichner sind auch nur Menschen. Sie sind mithin Kinder ihrer Zeit und ihrer Erfahrung. Sie hatten und haben einen je eigenen Horizont, in dem sie denken und innovieren können. Genauso wie Sie und ich ebenfalls.

Scrum wurde von Schaber/Sutherland Mitte der 1990er entwickelt. Da war Schwaber schon 50 und Sutherland wahrscheinlich auch. Sie haben sich darin eingebracht mit allem besten Willen und all ihrer Erfahrung. Nicht weniger - aber eben auch nicht mehr.

Die Frage ist daher: Was war ihre Erfahrung? Und was für ein Ziel lässt sich daraus ableiten?

Das Ziel beschreibt am Ende das Agile Manifest: Es geht um den Softwareproduktionsprozess. Der soll flüssiger werden, der soll näher am tatsächlichen Bedarf laufen. Die Softwareentwicklung soll sich nicht ablenken lassen durch eingefahrene Regularien, Werkzeuge, Dokumentationsanforderungen, Vertragsverhandlungen oder überdimensionierte, schnell veraltende Pläne.

Gut so! Das Manifest enthält wunderbare vier Maximen.

Und dennoch: Es geht um Produktivität. So sehen denn auch die Mittel aus, die zum Einsatz kommen:

  • Statt einmaliger Großplanung lieber iteratives Vorgehen in Lernschleifen.
  • Statt technischer Meilensteine lieber inkrementelles Vorgehen für schnelleres Feedback.
  • Statt Abteilungsgerangel lieber cross-functional teams.
  • Statt langsamer indirekter Kommunikation über Hierarchieebenen hinweg lieber schnelle persönliche Kommunikation auf Augenhöhe durch co-location aller Teammitglieder.

Habe ich noch etwas vergessen? Bestimmt. Aber ich glaube, das sind die zentralen Mittel agiler Softwareentwicklung. Auf die sind 50jährige Männer nach intensiver Beobachtung und Diskussion gekommen.

Das ist wunderbar - außer, wenn es nicht wunderbar ist ;-) Denn es steckt in diesen Mitteln Zeitgeist und technische Möglichkeit. Man wusste es halt nicht besser, man konnte nicht anders. Doch seitdem hat sich die Welt gedreht. Wir sind 20 Jahre nach Scrum, 14 Jahre nach dem Agilen Manifest.

Innerhalb meines bescheidenen Horizonts halte ich das iterative/reflektierende Vorgehen für zeitlos. Auch am inkrementellen Vorgehen habe ich nichts auszusetzen. Außer, dass ich es oft noch für zu grobgranular halte und die Iterationen mir zu lange dauern. Aber grundsätzlich bin ich ganz dafür. Und auch die cross-functional teams sind für mich eine sine qua non. Nur so lassen sich Abhängigkeiten flüssig entschärfen.

Bei der co-location hingegen bin ich nicht mehr dabei. Hier sehe ich die weithin real existierende agile Praxis in den 1990ern verharren. Schwaber, Jeffries, Martin & Co sind eben keine digital natives. Sie hatten Email, aber auch wenn Ward Cunningham mit von der agilen Partie war, waren Wikis kein für die Massen verfügbares Werkzeug. Social Media waren in den Kinderschuhen wenn überhaupt Smartphones gab es noch lange nicht. Verteilte Versionsverwaltung lag noch in der Zukunft. Infrastruktur in der Cloud zum kleinen Preis ließ sich noch nicht denken.

Und so sah man sich außerstande, etwas anderes als co-location für die Zusammenarbeit zu empfehlen. Das war ja auch viel besser, als Leute auf office cubicles zu verteilen, oder?[1]

Irgendwie schon. Aber dann doch wieder nicht. Denn ich sehe durch die co-location drei fundamentale Probleme in der Praxis entstehen:

  1. Co-location öffnet Unterbrechungen Tür und Tor. Wer im team room nahe beieinander sitzt, kann die Kollegen schnell mal ansprechen. Das ist auch Sinn und Zweck. Fowler sagt: “[I]t promotes lots of informal and deep communication between people on the team.” Was für den, der einen anderen anspricht eine tolle Vereinfachung ist, ist für den Angesprochenen hingegen oft das Gegenteil, nämlich eine Erschwernis seiner Arbeit. Wer angesprochen wird, wird unterbrochen, d.h. aus seinen Gedanken gerissen, im Arbeitsfluss gestört. Da macht es auch nichts, dass der Ansprechende ganz wohlmeinend oder sehr bedürftig ist. Unterbrechungen stören die konzentrierte Herstellung von Resultaten. Das gilt für Unterbrechungen durch Manager, die plötzlich im Raum stehen, genauso wie für Unterbrechungen durch Teammitglieder - oder auch selbstverschuldete Unterbrechungen durch Social Media Benachrichtungen.
  2. Co-location leistet unentdeckten Abhängigkeiten Vorschub. Wer im team room sitzt, muss sich tendenziell weniger Gedanken machen über das, was er braucht, um seine Resultate zu erzielen. Abhängigkeiten von Technologien oder Anforderungsverständnis müssen nicht vorher entdeckt und aus der Welt geschafft werden, sondern können ja im Zweifelsfall jederzeit durch Nachfrage bei einem Kollegen aufgelöst werden. Irgendwer weiß immer Bescheid, dafür ist das Team doch cross-functional. Daraus entstehen nicht nur Unterbrechungen für Kollegen, sondern auch geringere Produktivität. Denn so wie ein Koch produktiver ist, wenn er in Phasen arbeitet, also z.B. Gemüse erst komplett schneidet, so ist Softwareentwicklung auch produktiver, wenn sie in Phasen arbeitet; das sind mindestens Analyse, Entwurf, Implementation.[2]
  3. Co-location fördert monolithischen Code. Wenn auch nur irgendetwas an Conways Gesetz ist, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass 14 Jahre Agilität den monolithischen Anwendungen nicht den Garaus gemacht haben.[3] “Organizations which design systems […] are constrained to produce designs which are copies of the communication structures of these organizations.” Und was für eine “communication structure” soll ein co-located team im team room haben? Eine sehr, sehr enge. Was bedeutet das für das “design”, d.h. die Struktur ihres Produktes Software? Es wird aus eng verbundenen Teilen bestehen.

Auch ich habe meinen Hintergrund. Vor dem sehe ich auf Agilität. Ich bin weniger am Prozess interessiert als am Code.[4] Der muss wandelbar, evolvierbar sein, sondern ist die Softwareentwicklung nicht zukunftsfähig.

Ja, da sehe ich das große Problem unserer Tage in der Softwareentwicklung: Wandelbarkeit. Sogar nicht nur Code, sondern auch Teams (und Unternehmen) müssen wandelbar sein, sich also anpassen können. Dazu gehört natürlich Reflexion, wie sie in der Agilität drinsteckt. Doch es braucht noch mehr. Ohne passende Strukturen lassen sich Ergebnisse der Reflexion nur schwer oder gar nicht umsetzen.

Die meisten Projekte leiden nicht unter technologischen Schwierigkeiten. Wir haben Hardware und Frameworks und Dienste, die leistungsfähig genug sind, um die Effizienzanforderungen an Software zu erfüllen. Das war bis vor 10 Jahren noch ganz anders. Deshalb war Wandelbarkeit für die Agilität auch kein großes Thema. Clean Code kam erst sieben Jahre nach dem Agilen Manifest und 13 Jahre nach Scrum.

Doch nun haben sich die Zeiten gewandelt. Wandelbarkeit ist das zentrale Thema - wenn man nicht grad dem nächsten noch besseren Framework hinterherjagt. Auch die aktuelle µService-Bewegung ist ein Ausdruck des Leidens am Monolithen, an der Unwandelbarkeit.

Und wodurch sind wandelbare Strukturen gekennzeichnet? Durch lose Kopplung. Ein älteres Prinzip gibt es wohl kaum in der Softwareentwicklung.

Lose Kopplung entsteht durch Kapselung (klare Schnittstellen, Autonomie, geringe Abhängigkeiten) und asynchrone Kommunikation.

Wenn man diese Eigenschaften für ein Softwaresystem will, wie ist das zu vereinbaren mit co-location im team room? Wie können lose Kopplung und auch wandelbare verteilte System einfach entstehen, wenn die, die sie herstellenn sollen, einander auf dem Schoß sitzen?

Hier sehe ich die vorherrschende Implementation von Agilität gegen eine Wand laufen. Man macht es sich schwer bis unmöglich, das zentrale Problem der Softwareentwicklung unserer Zeit zu lösen, wenn man als Default für die Teamorganisation den team room setzt.

Entwickler, die man im selben Raum zur selben Zeit sehen will, können eine Menge herstellen - aber entkoppelte Strukturen bzw. wandelbare Software ist sicherlich nicht das Produkt, was ihnen am leichtesten aus den Fingern fließt.

Das Agile Manifest ist gut, wofür es gedacht ist: Produktivität. Es kommt aber an seine Grenzen, wenn es Mittel verschreibt, die der Erfüllung anderer Anforderungen im Wege stehen, hier der Wandelbarkeit.

Deshalb mein radikaler Vorschlag: Geben wir die co-location auf! Setzen wir die Verteilung von Teams als Default. Befreien wir Teammitglieder von Bindungen an Raum und Zeit.

Wir haben genügend Kommunikationsmittel und Tools, um jederzeit Kontakt aufzunehmen zu Kollegen, egal wo sie sich befinden. Chat, Telefon mit Anrufbeantworter, Diskussionsforen, Wikis, Issue Tracker, Repositories, Videokonferenzen, online Whiteboards und was es noch alles gibt in tausend und einer Ausprägung. Asynchrone Kommunikation in unterschiedlicher Geschwindigkeit ist kein Problem. Jeder ist immer erreichbar. Gut so! Wir können unsere Anliegen immer zustellen - ohne den anderen zu unterbrechen. Das sorgt für konzentrierte Arbeit. Das ist gelebte Autonomie: Ich bestimmte selbst über die Nutzung meiner Zeit.

Wohlgemerkt schließt solcher Default der Verteilung nicht die synchrone Kommunikation aus. Zu einem Telefonat oder eine Videokonferenz kann man sich jederzeit verabreden. Das gilt sogar für persönliche Treffen, also Meetings. Niemandem wird verwehrt, sich eine Art der Zusammenarbeit zu wünschen, die für ihn und seine Resultate zuträglich ist. Nur muss das jeder mit den Kollegen verhandeln, denn die mögen andere Vorstellungen davon haben, wie sie ihre Ergebnisse am liebsten erzielen.

Verteilte Arbeit macht es schwerer, dass lokale Resultatsoptima entstehen. Ein Resultat kann weniger einfach auf Kosten vieler anderer Resultate hergestellt werden. Das Ganze wird betont, optimiert - ja, auch wenn ein Einzelner, ein individuelles Resultat dabei einmal zu kurz kommen sollte.

Dass man für verteiltes Arbeit ein paar andere oder gar mehr Soft Skills benötigt, als für die befohlene Arbeit am selben Ort zur selben Zeit wie andere, das mag sein. Man muss sich besser organisieren können, verantwortungsbewusster sein, expliziter und verlässlich kommunizieren… Aber nur weil das schwierig für manche sein mag (ja, auch und gerade für Manager), sollte das nicht bedeuten, dass verteilte Teams nicht anstrebenswert seien. Denn es steht viel auf dem Spiel. Es geht um nicht weniger als die verlässliche Herstellung von Wandelbarkeit. Ohne die gibt es nämlich keine Zukunftsfähigkeit. Sowohl für Code wie für Teams.

Mit verteilten Teams entstehen nämlich nicht nur (einfacher) wandelbare Softwarestrukturen, sondern auch wandelbare Teams. Wo ein Team verteilt arbeitet, ist die Einbindung von neuen Kollegen an beliebigen Orten einfacher. Das ist doch eine gute Nachricht für das Recruiting, oder? Dadurch kommen leichter neue Impulse zu allerlei fachlichen Aspekten ins Team.

Ganz davon abgesehen, dass verteilte Teams weniger hausinterne Infrastruktur brauchen. Heute gibt es alles, was das Entwicklerherz begehrt, in der Cloud. Wer wollte da auch nur einen Server kaufen? Was Entwickler brauchen, sind gute Laptops und viel Internetbandbreite. Gelegentlich noch ein Raum, um tatsächlich mal zusammenzukommen. Am besten mit Beamer/Smartboard und Flipchart. Und das Internet muss stets verlässlich da sein wie Strom aus der Steckdose. Ohne lästige Spezialfirewalls, die Superproxys brauchen, die den Zugriff auf ein DVCS behindern.

Wohlgemerkt, ich rede hier über Entwickler, nicht über sonstige Mitarbeiter von Unternehmen. Was die brauchen, ist eine andere Sache. Aber nur weil die vielleicht etwas brauchen - zum Beispiel ein total supersicheres Firmennetz -, sollte das nicht bedeuten, dass die Softwareentwicklung sich aus Solidarität auch ein Bein hochbinden muss.

Bottom line: Ich glaube, die Zeit der co-location als Default ist vorbei. Angesichts der Kommunikationsmöglichkeiten, die wir haben, hat sie den Punkt erreicht, wo sie kontraproduktiv wird.

Ja, wir haben das Zusammenhocken lieb gewonnen. Irgendwie ist es auch kuschelig mit den Kollegen. Aber was wollen wir? Kuscheln oder wandelbare Software?

Wer kuscheln will, kann z.B. per Chat im Team anfragen, wer mitmachen möchte. Dann kann ein Meeting vereinbart werden. Das sollte jedoch die Ausnahme sein. Synchrone persönliche Kommunikation vieler Teammitglieder macht vielleicht ein gutes Gefühl - aber es wird andererseits auch ganz schnell ganz viel Geld verbrannt.

Die Väter der Agilität haben es gut gemeint. Doch sie waren eben auch begrenzt in ihrer Erfahrung mit Kommunikationstechnologie. Ken Schwaber konnte z.B. nicht anders, als lange Jahre seines Lebens mit Telefon ohne Anrufbeantworter zu leben und zu arbeiten. Dann mit Anrufbeantworter und gelegentlichem Fax. Dann irgendwann später mit Email usw. Kein Wunder, dass er und die anderen co-location als Wunderwaffe empfanden. Irgendwie liegt sie uns ja auch im Blut. Die Bandbreite der Kommunikation ist da so schön hoch.

Aber kuschelige Bandbreite ist eben nicht alles. Wenn ungehinderte Kommunikation in hoher Bandbreite die Norm ist, ist irgendetwas optimiert – und irgendetwas bleibt auf der Strecke. Das ist die Wandelbarkeit.

Drum sage ich: Vorsicht vor der co-location!

So viel Verteilung und Autonomie und Entkopplung wie möglich, so wenig co-location wie nötig.


  1. Wir können spekulieren, wie das Agile Manifest ausgesehen hätte, wenn 50% der Unterzeichner Frauen gewesen wären. Oder das Durchschnittsalter 25 Jahre. Oder unterschiedliche Kulturen vertreten gewesen wären.

  2. Wer hier herauslesen will, dass ich für Big Design Up-Front (BDUF) wäre, liegt falsch. Diese Phasen können manchmal nur Minuten oder Stunden dauern. Selbst in der agile Praktik TDD stecken sie drin - ohne dass das betont würde. 30 Minuten Entwurf mit 2 Stunden folgender Implementation können 5 Stunden vermeintlich reiner Implementation ersetzen, in denen der Entwickler dauernd in unvermutete Abhängigkeiten läuft. Dass man durch beliebig lange Analyse- und Entwurfsphase alle Abhängigkeiten entdecken könnte, behaupte ich auch nicht. Aber ein gesundes Maß an Analyse und Entwurf ist nötig; mehr als oft aufgewandt wird in agilen, co-located Teams.

  3. Ganz davon abgesehen, dass Agilität ja nicht Wandelbarkeit als ausdrückliches Ziel hat. Wie man ganz deutlich an Scrum sehen kann, kümmert sich der agile Prozess gar nicht um die Sache - Code -, sondern nur um den Rahmen für die Produktion der Sache. Nicht umsonst hat Jeff Sutherland nun auch ein Buch geschrieben, das Scrum auf alle möglichen Arbeitsfelder anwendet (“The Art of Doing Twice the Work in Half the Time”).

  4. Allerdings verschiebt sich dieser Fokus notgedrungen in den letzten Jahren. Denn ich merke, dass ich die Verbesserungen, die mir für Code vorschweben, in Unternehmen nicht gut verankert bekomme, wenn mir der Prozess oder gar die Unternehmenskultur egal ist. Aber das ist ein Thema für einen anderen Artikel… ;-)