Wo positioniert sich Soziokratie im Unternehmen? Welche Struktur hat soziokratische Führung? Diese beiden Fragen habe ich in den bisherigen Postings beantwortet. Das mag für Sie schon teilweise gewöhnungsbedürftig gewesen sein. Aber das ist noch gar nichts ;-) Denn jetzt zur Frage, wie Soziokratie sozusagen innen funktioniert. Wie geht Soziokratie mit dem Feedback um, das in seine Kreishierarchie hineinfließt? Wie entscheidet Soziokratie, wie fassen die Kreismitglieder Beschlüsse? Die Antworten darauf scheiden viele Geister. Nichtsdestotrotz finde ich sie hochspannend, sehr zeitgemäß und kompatibel gerade zur Softwarebranche.
Kritik des Üblichen
Um den Wert der Soziokratischen Methode (SKM) wirklich fühlen und genießen zu können, ist es vielleicht nützlich, sich zunächst die üblichen Methoden zur Führung mit ihren Vor- und insbesondere ihren Nachteilen zu vergegenwärtigen.
Da wäre die altehrwürdige Autokratie. Sie entsteht quasi spontan als default, wenn keine andere Führungsform bewusst gewählt wird. In der Autokratie sagt einer an und die anderen gehorchen. Wer ansagt, hängt von der Organisation ab. Es mag der im Hinblick auf den Zweck der Organisation beste sein, der, der am kenntnisreichsten ist, am schnellsten, am stärksten, am erfahrensten. Oder es ist der, der einfach Macht über andere hat, weil er begehrte Ressourcen verwaltet oder Schaden zufügen kann. Einerlei, denn der Effekt ist derselbe: Anweisungen fließen von oben nach unten durch eine Hierarchie. Informationen von unten nach oben hingegen haben es schwer.
Die Vorteile der Autokratie: Effizienz und Komplexitätsreduktion. Die Nachteile: Wahrnehmungsschwäche, Starrheit, Arroganz. (Vom vielleicht idealen Fall eines wirklich in der Sache kompetenten Autokraten, der auch noch gütig und offen ist, will ich einmal absehen. Den gibt es eigentlich nur noch in der überschaubaren Welt der Märchen.)
Autokratie ist an sich keine schlechte Führungsform. Sie ist nur ein Mittel, ein Werkzeug, das selbstverständlich in geeigneten Situationen gute Dienste leisten kann. Wenn es schnell gehen soll und ein Autokrat tatsächlich den Überblick hat, dann mag Autokratie sogar die beste Form sein, um im allgemeinen Sinne zu führen.
Angesichts der Komplexität unserer Welt möchte ich jedoch den Begriff "Führung" hier grundsätzlich streichen. Wie im letzten Abschnitt meines vorherigen Postings ausgeführt, wird im operativen Geschäft nicht geführt, sondern koordiniert. Autokratie hat deshalb eigentlich an keinem anderen Einsatzort mehr Zweck als im operativen Geschäft, weil ihre Nachteile der Geschäftsführung in heutigen Märkten im Wege stehen. Also kann Autokratie nur noch geeignet sein für Koordinationsaufgaben. Das sieht die Soziokratie auch so und sperrt sich daher nicht gegen autokratische Strukturen im Tagesgeschäft. Ein Meister darf seine Gesellen autokratisch im operativen Geschäfts koordinieren. Ein Vertriebsleiter darf sein Team im Sinne der Aufgaben des Tagesgeschäftes autokratisch koordinieren. Der Werkschutzleiter darf seinen Sicherheitsleuten auch autokratisch Aufgaben zuteilen - allemal, wenn Gefahr im Verzug ist. Autokratie hat also auch in der heutigen Zeit ihren Wert, weil sie sehr effizient sein kann.
Gerade zur Führung großer und vielfältiger sozialer Systeme ohne äußeres Ziel ist Autokratie aber seit langer Zeit schon aus der Mode gekommen. Ihre Nachteile waren zu gewichtig, als dass sie von der Basis der Hierarchien noch ertragen wurden. Die Menschen wollten nicht immer unter einer Macht über sie leiden. Sie wollten selbst Anteil an der Macht haben, sie wollten sich mehr selbst bestimmen. Deshalb setzen wir heute in der Politik und auch in anderen Organisationen auf die Demokratie. Mit der Demokratie bestimmt nicht mehr einer über viele, sondern viele über sicht selbst. Sie führen sich selbst, sie legen zusammen ihre Grundsätze fest, sie treffen gemeinsam Entscheidungen. Ob die Vielen dabei alle direkt zu Wort kommen oder nur vermittels Repräsentanten, ist nicht so wichtig. Den Kern der Demokratie macht die Bestimmung durch eine Mehrheit aus.
Das ist sicherlich ein Fortschritt gegenüber der Autokratie, die letztlich nur die Bedürfnisse des einen Mächtigen berücksichtigt. Aber Demokratie hat auch ihren Preis! Ganz offensichtlich ist sie nicht effizient. Wenn es schnell gehen muss, dann kann man nicht erst zu Diskussion und Abstimmung zusammenkommen. Bei Polizeieinsätzen wird immer noch nicht demokratisch, sondern autokratisch koordiniert. Deshalb ist die Demokratie eigentlich auf die Führung von Organisationen beschränkt. Grundsatzentscheidungen trifft man demokratisch, ausgeführt/koordiniert wird autokratisch.
Weniger offensichtlich ist Demokratie jedoch nicht nur ineffizient, sondern ebenfalls "arrogant". Das bemäntelt sie allerdings nach Kräften. Sie erhebt es sogar zu einer Tugend, sich dieser "Arroganz" zu unterwerfen. Das mag merkwürdig klingen, doch schon ein simples Rechenbeispiel legt den Finger in die Wunde: Wenn ein Verein mit 100 Mitgliedern einen Beschluss mit der üblichen einfachen Mehrheit fassen will - zum Beispiel könnte es um die Farbe des neuen Anstrichs für das Vereinsgebäude gehen -, dann werden die Bedürfnisse von 49 Mitgliedern nicht berücksichtig, wenn sich 51 für Pink entscheiden. Je größer die demokratische Gruppe, desto näher an 50% liegt der Anteil derer, über die eine Abstimmung sich mit einfacher Mehrheit hinwegsetzt! Bei allen Segnungen, die wir durch Demokratie erfahren haben, sollten wir das nicht vergessen. Selbst vielfach vorteilhafte Demokratie darf nicht zum Dogma verkommen. Auch für sie gilt: das Bessere ist der Feind des Guten. Demokratie ist auch nur ein Werkzeug mit bestimmten Eigenschaften und geeigneten Einsatzszenarien und kein Selbstzweck.
"Arrogant" habe ich Demokratie hier etwas polemisch genannt, weil sie sich im Grunde nicht für die Minderheitsmeinung interessiert. Ihre Regel lautet: die Mehrheit bekommt Recht. Für die Mindertheit hat sie nur ein lakonisches "Pech!" übrig. So ist es zumindest am Ende nach einer Abstimmung mit einer Mehrheit. Der Weg dahin kann allerdings steinig sein. Was, wenn es zunächst keine Mehrheit im Sinne des Abstimmungsverfahrens gibt? Vielleicht gibt es zunächst im Verein drei Meinungen zur Farbe des Vereinsgebäudes und hinter keiner stehen die notwendigen 51 Stimmen für einen demokratischen Beschluss. Dann muss zunächst ein Konsens erarbeitet werden zwischen genügend vielen Mitgliedern, um mindestens 51 Stimmen auf eine Farbe zu vereinen.
Das mag noch trivial sein. Letztlich unterscheidet es sich aber nicht von der Situation, wenn Regierung und Bundesrat von unterschiedlichen Parteien bzw. Koalitionen dominiert werden. Entscheidungen kommen dann erst durch Konsensverhandlungen zustande. Und die können sich sehr, sehr lang hinziehen. (Empfehlenswerte Lektüre dazu: "Konsens ist Nonsens") Das mag zwar vor allem ein Problem des deutschen Föderalismus sein - doch letztlich steckt das Risiko "Konsensfalle" schon in der ihm zugrundeliegenden Demokratie.
Was bedeutet das nun alles für die Unternehmensführung? Die ist zunächst zurecht autokratisch. Nur Autokratie verspricht genügend Effizienz, um den Unternehmenszweck "Gewinnerwirtschaftung für den Eigner" zu erreichen. Der Preis dafür ist allerdings hoch: geringer Wahrnehmungshorizont der Organisation und geringe Motivation der Mitarbeiter.
Alle Mann ins Boot!
Mit dem Gedanken echt orthogonaler Führung im Hinterkopf könnten Sie ja nun aber fragen: Warum nicht die Führung demokratisieren und das operative Geschäft autokratisch lassen? Wären da nicht die Vorteile der Demokratie - viel Feedback durch breite Beteiligung sowie hohe Motivation durch Selbstbestimmung - und Effizienz der Autokratie vorteilhaft verbunden?
Nein! So einfach ist es leider nicht, auch wenn der Gedanke natürlich löblich ist ;-) Das operative Geschäft würde zwar nicht ausgebremst... aber womöglich die Geschäftsführung. Die "Konsensfalle" lauert überall.
Noch schlimmer jedoch: Demokratie löst das Motivationsproblem nicht wirklich. Wie oben schon gesagt sind 49,9...% Prozent der Abstimmenden immer unzufrieden. Darüber langfristig mit dem Hinweis hinwegzugehen, so sei es halt und ein guter Demokrat füge sich der Mehrheit, ist kontraproduktiv. Nicht berücksichtigte Bedürfnisse lassen sich nicht so einfach rational zurückstellen. Jenachdem, worum es bei einer demokratischen Entscheidung geht, wird also nicht nur ein Entschluss gefasst, sondern auch Widerstand in den Untergrund gedrängt.
Der Ansatz der Psychologie ist daher schon lange, Widerstände eben nicht zu verdrängen, sondern entweder aufzulösen oder zumindest zu integrieren. Ein solches Bemühen geht der Demokratie ab. Sie sucht nur die Mehrheit zu finden. Sie reduziert Lösungen auf eine Mindestzahl an Zustimmungen, damit eine Mehrheit entsteht. Warum einer seine Stimme abgibt oder eben nicht wie die Mehrheit stimmt, das ist egal. Am Ende zählen nur Zahlen.
Ob Autokratie oder Demokratie: letztlich führen also beide quasi notwendig zu Unzufriedenheit, die mühsam wieder kompensiert werden muss. Denn unzufrieden ist jeder, der im Entscheidungsprozess nicht gehört wurde. Für kleine Probleme ist das vielleicht unerheblich und wird durch Gehaltszahlung oder Incentives kompensiert. Auf die Dauer jedoch sucht sich Unzufriedenheit andere Kanäle. Dienst nach Vorschrift, ein hoher Krankenstand, geringe Produktqualität können Symptome dafür sein.
Die größte Herausforderung an die Organisation der Führung und ihre Entscheidungsprozesse ist mithin, sowohl einen weiten Horizont zu haben, was die Wahrnehmung von Feedback aus operativem Geschäft und des Markt angeht. Und andererseits möglichst alle Meinungen mit den dahinter stehenden Bedürfnissen zu berücksichtigen. Führung heute bedeutet, wirklich alle ins Boot der Unternehmenspolitik zu bekommen.
Ist das aber nicht unrealistisch? Ist dieser Aufwand wirklich nötig?
Ja, so sieht es wohl aus. Das "Alignment" möglichst vieler ist kein Selbstzweck. Es geht auch nicht um Gutmenschtum. Unternehmensführung mit maximalem Feedback, d.h. Beteiligung möglichst vieler, und Entscheidungsfindung mit maximaler Bedürfnisberücksichtigung ist heute essenziell für nachhaltige Entwicklung des Unternehmens.
Die heutigen Märkte sind sehr veränderlich. Also brauchen Unternehmen feine Sinnesorgane nach außen und innen. Jeder Mitarbeiter ist ein solches Sinnesorgang und hat Interesse am Erhalt seines Arbeitsplatzes. Deshalb hat er ein Interesse, seine Wahrnehmungen weiterzugeben - wenn das denn etwas bringt, wenn er Gehör findet. Das Potenzial für viel Feedback ist also in jedem Unternehmen vorhanden. Jetzt muss eine geeignete Führungsorganisation es nur ausnutzen.
Die heutigen Märkte erfordern hohe Effizienz, Evolution und Innovationen. Die bringen aber nicht bessere Prozesse oder Werkzeuge, sondern am Ende die Menschen. Wo Menschen sich bewusst oder unbewusst weigern, sich einzubringen, da herrscht Ineffizienz, Stillstand, Konvention. Unternehmen tun also gut daran, solchen Sand aus dem Getriebe zu entfernen. Nicht, indem sie auf Menschen verzichten, sondern indem sie die Menschen einbinden. Auch hier geht es darum, das vorhandene Potenzial auszuschöpfen.
Damit ist eng verbunden Aufbau und Erhalt von Erfahrungen. Was können Unternehmen tun, damit gute Leute bei ihnen arbeiten wollen? Was können sie tun, um gute Leute zu halten? Die Antwort ist wieder: sie als ganze Menschen einbeziehen. Nicht nur Arbeitskraft im operativen Geschäft abschöpfen und (gut) bezahlen, sondern auch ihre Meinung erfragen. Wer sich wirklich als Person gesehen und erst genommen fühlt, wechselt nicht so leicht in eine neue (Arbeits)Beziehung.
Feedback, Effizienz, Innovation, Retention: Das sind die Gründe, warum Unternehmen eine Führung etablieren sollten, die sich um die Berücksichtigung möglichst vieler bemüht.
Konsent: Widerstand statt Zustimmung
Autokratie wollen wir nicht, Demokratie bringt es nicht. Wie soll denn dann aber eine Unternehmensführung Entscheidungen treffen? Wenn möglichst viele mit ihren Bedürfnissen und Meinungen berücksichtigt werden sollen, läuft das denn nicht wieder auf zähe Konsensfindung hinaus? Nein!
Konsens ist nicht nötig, um viele Positionen zu integrieren. Die Soziokratie stellt sozusagen die Demokratie auf den Kopf, um dieses Kunststück zu vollbringen. Das Zauberwort heißt dabei Konsent. Dem Deutschen ist es fremd, das Englische kennt es jedoch: consent bedeutet dort soviel wie Einverständnis, Einwilligung, Übereinstimmung, Genehmigung - oder früher sogar Harmonie.
Man mag die lautlich geringe Distanz zwischen Konsent und Konsens beklagen, denn nichts könnte Konsent ferner liegen als Konsens. Aber so haben sich die (deutschen) Soziokraten nun einmal entschieden. In den soziokratischen Kreisen geht es um Konsent. Und das bedeutet: nicht Einwilligung ist gesucht, sondern Berücksichtigung von Kritik.
Konsent konzentriert sich auf Widerstände, statt Zustimmung.
Wenn eine Entscheidung über ein Thema ansteht, dann wird nicht (!) gefragt, wer dafür sei. Und es werden auch keine Gegenstimmen gezählt.
Stattdessen fragt der Leiter eine Soziokratischen Kreises, ob es substanzielle Kritik am zu fassenden Beschluss gibt. Auf den Verein bezogen könnte das so aussehen: "Wir wollen heute eine Entscheidung über den Anstrich des Vereinshauses treffen. Gibt es schwerwiegende Gründe, die gegen einen neuen Anstrich sprechen?" Auf solche Frage kann nun jedes Kreismitglied seine begründeten Bedenken vortragen. Gibt es keine, gilt der Beschluss als gefasst.
Was sind nun aber begründete Widerstände? "Ich finde einen neuen Anstrich unnötig" könnte z.B. die Äußerung eines Kreisteilnehmers des Vereins sein. Ist das schon ein begründeter Widerstand? Nein. Ihm fehlt der Bezug zu Rahmenbedingungen der Organisation. Widerstände müssen aus den Grundsätzen oder der Politik oder der aktuellen Situation abgeleitet werden. "Ein Anstrich in diesem Jahr kann nicht ohne Erhöhung des Vereinsbeitrags bezahlt werden. Die Kasse ist leer." Das wäre eine begründete Kritik, weil sie auf die Budgetsituation verweist. Auch "Für den Anstrich haben wir keine Zeit bis zum Herbst und dann wird das Wetter nicht mehr mitspielen" wäre eine begründete Kritik. Ihr liegen Annahmen zugrunde, die sich verifizieren oder anderweitig berücksichtigen lassen.
Die Soziokratie begrüßt Emotionen als Grundlage von Äußerungen ausdrücklich. Negative Emotionen sind wertvolle Hinweise auf Widerstände, die früher oder später einen negativen Effekt auf die Umsetzung von Beschlüssen hätten. Aber die Soziokratie bleibt nicht bei den Emotionen stehen. Sie nimmt sie auf, geht ernsthaft auf sie ein und versucht, hinter sie zu schauen. Emotionen sind wichtige Informationen, aber keine Entscheidungsgrundlagen an und für sich.
"Ich finde einen neuen Anstrich unnötig" ist zunächst einmal nur eine legitime emotionale Äußerung. Ihr mag Angst vor einer Beitragserhöhung zugrunde liegen oder Unsicherheit in Bezug auf den für den Anstrich nötigen eigenen Arbeitsanteil oder oder oder. Wenn also ein Kreismitglied sich zu solch einer Äußerung entschließt, hakt der Kreis nacht. "Was bedeutet für dich 'unnötig'? Meinst du wirklich, der heutige Anstrich ist noch gut genug? Oder meinst du vielleicht, ein neuer Anstrich sei zu teuer?" Dann muss der "Kritikus" seine Äußerung begründen.
Hört sich das anstrengend an? Ja, vielleicht ist es das zunächst. Sich seiner wahren Beweggründe bewusst zu werden, ist immer anstrengender als einfach nur anonym eine Stimme auf einem Wahlzettel abzugeben oder auch nur die Hand für eine Wahlmöglichkeit zu heben.
Doch diese Anstrengung jedes Einzelnen lohnt sich für das große Ganze:
- Wenn der Konsent-Prozess nach Widerständen fragt, dann fragt er nach Wahrnehmungen. Nimmt die Kreisversammlung durch ein Mitglied etwas wahr, das einem Beschluss entgegensteht? Daraufhin kann sich natürlich auch ein Repräsentant eines untergeordneten Kreises mit Bedenken melden. Wahrnehmungen auch aus den entlegendsten Organisationsteilen können so zu Bewusstsein der Führung gebracht werden.
- Wenn im Konsent-Prozess alle Kreismitglieder gleichberechtigt sind und jede Äußerung willkommen ist, dann muss sich niemand mehr ausgeschlossen fühlen. Jedem wird Gehör geschenkt - sogar so ernsthaft, dass es womöglich erstmal ungemütlich ist.
Das wirkt in Summe einer Kultur des Abnickens entgegen. Niemand muss mehr überzeugt sein. Es reicht, wenn es keinen substanziellen Widerspruch mehr gibt. Und das ist nicht dasselbe wie Zustimmung. Soziokratie ist integrativ, wo Demokratie nur Stimmen zählt. Das Argument zählt und muss keine Angst vor einem unbegründeten Veto haben. Es gibt kein Vetorecht im soziokratischen Kreis.
Agil entscheiden
Indem die Soziokratie darauf verzichtet, zunächst erst mühsam eine Mehrheit zu bilden, um anschließend die schwelenden Widerstände der Überstimmten im operativen Geschäft zu überwinden, ist sie schon effizienter als Demokratie.
Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie aber noch mehr: Soziokratie hat auch keinen Perfektionsanspruch. Es geht nicht darum, die beste Lösung für alle zu finden. Die muss Demokratie nämlich quasi zwangsläufig insofern anpeilen, weil nur sie mehrheitsfähig ist. Soziokratie hingegen begnügt sich mit "gut genug". Auch das macht sie schnell. Denn "gut genug" ist, was keinen begründeten Widerstand mehr hervorbringt.
SKM institutionalisiert somit die Heuristik des Satisficing: Eine Entscheidung wird getroffen, wenn alle Anforderungen grundsätzlich "irgendwie" erfüllt sind. Ein Kreis wartet nicht auf ein Optimum. Es reicht, wenn es nicht mehr zu schlecht ist und ein Fortschritt erzielt wird.
Insofern geht es auch nicht mehr um ganz bestimmte Entscheidungen. Durch die vorgebrachten Widerstände in der Vereinskreissitzung kann z.B. das Ziel verändert werden. Der SKM-Kreis lässt dann vielleicht das ursprüngliche Thema "Neuanstrich des Vereinsgebäudes" los zugunsten eines anderen wie "Neuanstrich nur des Geräteschuppens in diesem Jahr", weil das keinen Widerstand aufgrund knapper Vereinsfinanzen mehr hervorruft.
SKM gleicht darin Scrum. Scrum will auch kein bestimmtes Feature umsetzen, sondern nur dafür sorgen, dass Anforderungen nach Priorität und Machbarkeit in Iterationen abgearbeitet werden. Genauso liegt SKM auch nichts an inhaltlich ganz bestimmten Beschlüssen, sondern nur daran, Fortschritt ohne begründeten Widerstand sicherzustellen.
Dass es dazu eines guten Kreisleiters bedarf und einer gewissen Disziplin wie Offenheit bei allen Kreismitgliedern, ist selbstverständlich. Deren (Aus)Bildung ist denn auch viel Zeit vor und während der Einführung von Soziokratie als Führungsmethode gewidmet.
Interessanterweise wirkt nun dieser Satisficing-Anspruch zurück auf den Konsent-Prozess. Denn wo Entscheidungen nicht mehr optimal oder in ganz bestimmter Weise getroffen werden müssen, da äußert sich erstens Widerstand leichter - andererseits wird er aber weniger schnell zum Selbstzweck. Denn wer heute nur ein schlechtes Gefühl hat und seine Kritik noch nicht begründen kann, der findet jederzeit Gehör, wenn er dafür bereit ist.
Das sorgt dann ganz natürlich dafür, dass SKM-Kreise zu weniger irreversiblen Entscheidungen tendieren. Ganz ausschließen kann man sie nicht, doch die Mitglieder werden sensibler ihnen gegenüber. Denn jeder irreversible Beschluss schränkt ja die durch SKM geschenkte Freiheit für berechtigte Kritik ein. Soziokratische Arbeit ist sozusagen ein natürliches Gegenmittel gegen BDUF (big design upfront) in der Geschäftsführung.
Die von der Soziokratie abgeleitete Holacracy formuliert das in einem Interview mit ihrem Begründer Brian Robertson so:
"Finally, and by far most importantly, [consent] changes the nature of decision-making and process control - the 'steering' of an organization or team - from a predict-and-control model to an experiment-and-adapt model. And that changes everything."
Soziokratisch wählen
Soziokratische Kreise treffen alle Entscheidunge im Konsent. Das gilt also auch für Personalentscheidungen. Wo der Autokrat bestimmt, der Demokrat (geheim) wählt, da sucht der Soziokrat offenen Konsent. Besetzungen folgen deshalb einem Protokoll:
- Alle Kreismitglieder tragen ihren Besetzungswunsch auf einem Zettel mit ihrem Namen ein. Der Leiter sammelt die Zettel.
- Dann begründen alle Kreismitglieder reihum ihren Wunsch.
- Dann haben die Kreismitglieder die Möglichkeit, aufgrund der Begründungen der anderen ihren Besetzungswunsch nocheinmal zu verändern.
- Aus den nun vorliegenden Besetzungswünschen ermittelt der Kreisleiter einen Favoriten.
- In Bezug auf den Favoriten wird Konsent gesucht.
Solch offene "Wahl" mag merkwürdig anmuten. Aber letztlich ist das Vorgehen konsequent. Bei ansonsten offenem Konsent wäre es inkonsequent, gerade Besetzungsentscheidungen geheim zu treffen. Und da am Ende ohnehin die "Wahl" im Konsent stattfindet, kann in einer Vorrunde auch offen über Vorschläge gesprochen werden.
Zusammenfassung
Bei den Borgs aus dem Enterprise-Kosmos mag Widerstand zwecklos sein. Bei Soziokratie hingegen ist er gewünscht. Begründeter Widerstand ist der Hebelpunkt für soziokratische Entscheidungen. Geäußerter Widerstand kann keine Kraft mehr im Untergrund entfalten. Geäußerte Bedenken sind wertvoller Input vor jeder Entscheidung. Willkommene Kritik ist ernsthafte praktische Wertschätzung jedes Einzelnen.
Soziokratie realisiert mit dem Konsent-Prinzip das Versprechen der Demokratie und macht Führung gleichzeitig sensibel und effizient. Mit Soziokratie hält die Essenz der Agilitätsbewegung Einzug in die Unternehmensführung.
Deshalb empfinde ich die Softwarebranche als prädestiniert für die Einführung von Soziokratie. Sie ist mit den Grundgedanken schon vertraut. Und sie kann angesichts ihrer hohen Geschwindigkeit jedes Bisschen Effizienzgewinn in der Unternehmensführung gebrauchen. Und nicht zuletzt geht Soziokratie das Problem der Mitarbeiterbindung in Zeiten des IT-Fachkräftemangels an. Denn wer kann es sich leisten, Mitarbeiter zuverlieren, wenn es so schwer ist, gute neue zu finden?
Soziokratie mag gewöhnungsbedürftig sein. Nicht nur für die, die ihre "Macht über" aufgeben sollen. Aber ich glaube, dass in ihr echtes Potenzial zu nachhaltigerer Unternehmensführung steckt. Zufriedenheit, Qualität und Produktivität sind gleichermaßen Anliegen der SKM.
2 Kommentare:
Danke! Sehr interessant und hilfreich.
Kennst Du Unternehmungen in der Soziakratie, in der einen oder anderen Form, bewust eingeführt wurde. Wie sind die Ergebnisse. Wie groß sind die Teams, wie lange der Übergang.
@Robert: Soziokratie ist in Hunderten Organisationen in der Welt im Einsatz. Prominent sind aber Firmen in den Niederlanden, weil die Soziokratie von dort kommt, s. dazu auch den brand eins Artikel: http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=2896.
Hier auch ein Blog von jmd, der Soziokratie an seiner Schule eingeführt hat: http://dynamicgovernance.blogspot.com/
In der Softwarebranche kenne ich erstmal nur ein Unternehmen, das konkret so arbeitet: Das ist die Firma von Brian Robertson, der das soziokratische Konzept unter dem Namen "Holacracy" verbreitet: http://www.holacracy.org/.
Die Teamgröße ist für Soziokratie aber egal: es geht bei 1 los :-) Bei dir selbst, wenn du zwischen Führung und Koordination unterscheidest und deine eigenen Entscheidungen im Konsent mit dir findest (Stichwort: inneres Team).
Wenn die Organisation größer wird, dann dauert es natürlich länger. Bei Organisationen von 10+ Leute würde ich das mal in Monaten rechnen.
-Ralf
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