Sonntag, 25. Januar 2009

Aspektorientiert diskutieren - Weg und Ziel entkoppeln vermeidet Konflikte [OOP 2009]

Warum fällt Veränderung oft schwer? Liegt es wirklich vor allem daran, dass alte Gewohnheiten schwer zu "entlernen" sind? Teaching an old dog new tricks: ist das wirklich so mühsam? Gestern meine ich einen Zipfel von der Erkenntnis erhascht zu haben, dass das nicht wirklich der Grund ist. Wir machen uns Veränderung vielmehr selbst schwer.

imageGestern saß ich in meinem Lieblingscafé in Hamburg, dem elbgold am Mühlenkamp, und wollte eigentlich nur meinen Lieblingskuchen genießen, Schokosahne - leider nur am Wochenende -, da bekam ich leider keinen Platz. Zunächst. Dann bot mir aber ein mir vom Sehen her bekannter anderer "elbgold-Bewohner" einen Hocker bei sich an und wir kamen ins Gespräch. Kaum sah er, dass ich ein C#-Buch unterm Arm hatte, outete er sich als Java-Jünger. So kamen wir denn unvermeidlich auch auf Clean Code Developer (CCD) als plattformunabhängige Qualitätsoffensive.  Und wir kamen auf die Defizite im Vorgehen in seiner Firma.

Issue Tracking als Veränderungsproblem

Da ist zum Beispiel das Thema Issue Tracking. Damit hat man dort noch nicht soviel am Hut. Man beginne gerade sich zu bemühen, Aufgaben im Nachhinein zu erfassen, also das, was man schon getan hat. Aber mit einer proaktiven Liste von Fehlern oder gar Anforderungen... nein, darüber diskutiere man noch. Es sei alles nicht so einfach: der Chef müsse noch überzeugt werden, ein Tool sei zu entscheiden, das Team hätte unterschiedliche Vorstellungen usw.

Ich habe meinem Gesprächspartner dann natürlich aus aktuellem Anlass gleich den soziokratischen Konsent als Hilfsmittel für die Entscheidungsfindung nahegelegt. Statt die Verantwortung auf den Chef abzuwälzen (Autokratie) oder langwierig unter allen einen Konsens für eine Abstimmung zu erzielen (Demokratie) sei auch ein anderes Vorgehen möglich - und wahrscheinlich sogar zielführender.

Mit diesem Rat bin ich immer noch zufrieden. Konsent ist ein allgemein hilfreiches Instrument zur Entscheidungsfindung. Dennoch oder gerade deshalb geht Konsent nicht die Wurzel des Übels an.

Was macht die Situation in der Firma meines Gesprächspartners so unerquicklich. Was macht die Veränderung zu konsequentem Issue Tracking so schwer? Die neue Gewohnheit, eine qualitätssteigernde Praktik des orangen Grades des CCD, hat es schwer Fuß zu fassen im immer eiligen Tagesgeschäft, bei dem alles wichtig+dringend ist - außer eben solcher Veränderung.

Ist Issue Tracking an sich schwierig? Braucht man dafür schwer zu erlernde Fertigkeiten? Ist es Professoren vorbehalten, Issue Tracking zu verstehen? Oder kostet Issue Tracking schlicht soviel Zeit, dass man dafür eigentlich tagelang den Betrieb schließen müsste?

Alles quatsch! Issue Tracking ist kinderleicht und schnell gemacht.

Also nochmal: Wo liegt das Problem?

Weg und Ziel entkoppeln

Ich glaube, die Veränderung hin zu Issue Tracking ist so schwierig, weil das Team ein undifferenziertes Bild davon hat. Issue Tracking erscheint als großer Klumpen, den es ganz oder gar nicht zu schlucken gilt. Man versucht eine die Entscheidung zu treffen und umzusetzen "Wir machen Issue Tracking so und so. Punkt."

Hört sich doch auch ganz normal an. Man entscheidet sich für oder gegen Issue Tracking in einer bestimmten Weise. Was sonst?

Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Das ist nicht-agiles Denken. Das ist Denken aus einer Welt, die erstens überschaubarer war und zweitens viel langsamer und weniger vollgepackt.

So ist es ja aber eben nicht in der Firma meines Gesprächspartners. Dort steht man ständig unter Kundendruck. Neue Features eben noch einflicken, Releases schnell noch zusammenbasteln, Fehler korrigieren, dann wieder neue Features und die Aufwandsabschätzung für das Angebot des Chefs nicht vergessen... Wie so oft findet die Arbeit im ständigen "emergency mode" statt. Da ist die Welt einfach nicht überschaubar, weil man sie durch einen Tunnel sieht. Es gibt kaum Spielräume.

Das kann und soll man beklagen. Am Ende lässt sich diese grundlegende Situation selbst aber nicht schnell ändern. Sie definiert die Rahmenbedingungen für die Einführung von Issue Tracking und sonstigen Veränderungen.

Was also tun? Wie kann es sich das Team einfacher machen, Issue Tracking einzuführen?

imageMeine Erkenntnis derzeit ist, ein großer "Veränderungsklumpen" sollte zunächst grundsätzlich aufgeteilt werden in die Aspekte Ziel und Weg. Der Weg ist also mal nicht das Ziel. Weg und Ziel sind vielmehr deutlich zu unterscheiden. Die Zugspitze ist nicht die Zugspitzbahn. Mir reicht auch nicht die Fahrt mit der Zugspitzbahn ohne längeren Aufenthalt auf dem Gipfel. Und für den Aufenthalt auf dem Gipfel muss ich nicht unbedingt mit der Zugspitzbahn dorthinkommen.

Was ist mit dieser Unterscheidung gewonnen? Das Team kann jetzt zwei Fragen diskutieren:

  1. Wollen wir Issue Tracking einführen?
  2. Wie wollen wir Issue Tracking einführen?

Der Vorteil liegt erstens in einem viel besseren Verständnis davon, was alle Beteiligten unter Issue Tracking überhaupt verstehen. Da mögen die Meinungen nämlich schon auseinandergehen. Solche Meinungsdifferenzen, wenn sie nicht aufgedeckt werden, behindern ansonsten den Veränderungsprozess im Sinne eines "Veränderungsklumpens".

Aus der Diskussion darüber, was Issue Tracking ist, welche Formen es gibt, wo die Vor-/Nachteile liegen usw. ergibt sich dann ein Ziel. Dazu kann das Team einen ersten Beschluss fassen - im besten Fall mittels Konsent. Der Beschluss kann z.B. lauten: "Wir führen Issue Tracking für Anforderungen und Fehler für alle Projekte ein."

Der Trick dabei: Dieser Beschluss ist viel einfacher zu fassen als der über den bisherigen "Veränderungsklumpen". Die Vorteile von Issue Tracking ja liegen auf der Hand. Dass jemand es nicht haben möchte - ganz unabhängig davon wie man das schaffen kann -, ist schwer vorzustellen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, genau solche Einmütigkeit explizit zu machen. "In Notzeiten", wenn die Veränderung mal wieder schwer fällt, kann man sich dann nämlich gegenseitig daran erinnern. "Wir haben doch alle dasselbe Ziel. Wir sind alle für Issue Tracking. Lasst uns das Ziel jetzt nicht aus den Augen verlieren."

Wenn nun das Ziel klar ist, dann kann sich das Team an die zweite Frage machen. Wie wollen wir das Ziel erreichen? Welche Schritte wollen wir in seine Richtung machen?

image

Das ist eine ganz andere Frage als die erste, grundsätzliche, was das Ziel eigentlich sei. Während man den Weg diskutiert, kann man jetzt auch gewiss sein, einer Meinung zu sein, dass das Ziel überhaupt erreicht werden soll. Die Diskutanten richten kohärent ihre Energie darauf, einen Weg zu finden, um gemeinschaftlich ans Ziel zu kommen.

Oft ist es nun gerade diese Diskussion, die von Differenzen und Missverständnissen geplagt ist. Aber das ist jetzt nicht mehr so schlimm. Denn da sich alle einig über das Ziel sind, haben alle ein Interesse, den "Sand im Getriebe" aufzuspüren und unschädlich zu machen.

Baby Steps

image Mit dem Fokus auf dem Weg ist es nun auch einfacher, eine sehr praktible Technik anzuwenden, um ihn zu gehen: die Technik der kleinen Schritte. Der gleichermaßen komische wie tiefgründige Film "Was ist mit Bob?" ("What about Bob?") mit Bill Murray und Richard Dreyfuss sagt dazu "Baby Steps".

Veränderungen lassen sich am besten mit kleinen Babyschritten erreichen. Sich nicht zuviel vorzunehmen, sich Unsicherheiten und Fehlschläge zu gestatten, das ist eines der Geheimnisse erfolgreicher Veränderung. Wer nur kleine Schritte macht, kann seinen Weg auch immer wieder korrigieren. Denn Korrektur ist sicher nötig: unvorhergesehenes passiert, auf das man reagieren muss; Feedback unterschiedlicher Art signalisiert, dass man vom Weg abgekommen ist.

Der ursprüngliche undifferenzierte Entschluss für Issue Tracking mag so ausgesehen haben: "Wir führen Issue Tracking ab dem 1.10.2008 für alle Projekte ein und benutzen Bugzilla für alles: Anforderungen und Fehler und Design Issues." Dass führt notwendig zu Problemen. Jedes Problem mit dem Wie (z.B. Bugzilla) stellt dann auch das grundsätzliche Was (Issue Tracking) in Frage.

Wenn Was (Ziel) und Wie (Weg) aber getrennt sind und der Weg auch noch in Baby Steps aufgeteilt ist... dann ist es viel einfacher. Was und Wie geraten nicht mehr in Konflikt. Teammitglieder geraten nicht mehr in Konflikt. Naja, zumindest nicht mehr so leicht.

Mit der konsentbasierten Grundsatzentscheidung - "Wir führen Issue Tracking für Anforderungen und Fehler für alle Projekte ein." - ist das Team viel freier, kleine, auch im Tagesgeschäft gangbare Schritte festzulegen. Die könnten z.B. sein:

  1. Issue Tracking nur für Fehler mit Excel für das Projekt A über 4 Wochen.
  2. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Excel für das Projekt A über 4 Wochen.
  3. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Bugzilla für das Projekt A über 4 Wochen.
  4. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Bugzilla für Projekt A und B über 4 Wochen.
  5. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Bugzilla für alle Projekte

Sieht aus wie ein Spring Backlog? Ist ein Backlog. Ein Backlog ist nichts anderes als eine Folge von geplanten Schritten. So sind wir denn also beim Wie zu einem Thema auf dem vertrauten Terrain agilen Vorgehens. Das sollte es einfach machen, die Unterscheidung zwischen Ziel und Weg zu treffen.

Jeder dieser Babyschritte kann separat beschlossen werden - im Konsent. Es müssen zunächst auch gar nicht soviele sein. Mit dem gemeinsamen Ziel könnten in einer ersten Beschlussrunde auch nur Schritte 1 bis 3 ins Backlog kommen plus einer expliziten Entscheidung über den weiteren Weg:

  1. Issue Tracking nur für Fehler mit Excel für das Projekt A über 4 Wochen
  2. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Excel für das Projekt A über 4 Wochen
  3. Issue Tracking für Fehler und Anforderungen mit Bugzilla für das Projekt A über 4 Wochen
  4. Entscheidung über Bugzilla und den weiteren Weg

Das Schöne an der Entzerrung von Ziel und Weg ist, dass damit der Weg quasi befreit ist von irgendwelcher festgefügter Konkretheit. Er muss nicht in ganz bestimmter Weise zwangsläufig verlaufen. Er kann geplant und später korrigiert werden. Jeder Schritt muss im Moment des Beschluss nur in den Augen aller einen Beitrag zur Erreichung des Zieles leisten. Stetiger Fortschritt ist wichtiger als gerade Linie.

Dass die beschlossenen Schritte auch abgegangen werden, ist dann eine Sache recht einfacher Kontrolle. Dabei kann Scrum helfen. Welche Schritte beschlossen werden sollen, wie die Prioritäten aussehen, das liegt jedoch außerhalb des Vorgehensmodells.

Bei Veränderungsprozessen gibt es keinen externen Kunden. Die Organisation selbst ist vielmehr der "Kunde" oder genauer: die Organisationsführung. Da kommt die Soziokratie wieder ins Spiel. Es sollte eine Kreishierarchie sein, die das Ziel von Veränderung und den Weg dorthin festlegt. Sie definiert die Schritte und delegiert die Ausführung dann an einen Kontrollprozess.

Veränderung = Aspektorientierung + Soziokratie + Scrum

Veränderungen aspektorientiert in Ziel und Weg zu zerlegen und dann mit Soziokratie und Scrum anzugehen, hat mehrere Vorteile:

  • Durch die differenzierte aspektorientierte Sicht werden Missverständnisse/Konflikte vermieden und gleichzeitig die Energie in Richtung Ziel gebündelt. Kohärenz entsteht durch das gemeinsame Ziel.
  • Durch explizite Beschlüsse für den Weg entsteht eine Schrittfolge, die korrigierbar und erweiterbar ist. YAGNI und KISS lassen sich nicht nur auf Code anwenden, sondern auch auf solche Schrittfolgen. Probleme auf dem Weg färben nicht auf das Ziel ab. Kohärenz wird erhalten und gleichzeitig Agilität gewonnen.
  • Eine soziokratische Organisation all derjenigen, die von Veränderungen betroffen sind, vermeidet Konflikte, weil alle eingebunden sind und ihre Bedürfnisse einbringen können; und sie erhöht das Wissen über mögliche Hindernisse auf dem Weg.
  • Eine Kreishierarchie der "Betroffenen" vereinfacht den Rahmen für Veränderung. Es gibt nicht mehr hier die Führung, dort die Betroffenen und dann einen Prozess. Im Sinne von Scrum sind da vielmehr nur noch "Kunde" (Kreishierarchie der "Betroffenen") und "Team" (operative Organisation der "Betroffenen"). Die Koordination der Beteiligten im Sinne der beschlossenen Schrittfolge ist damit sehr klar.

Veränderungen unter Druck haben durch klare Trennung der Aspekte Ziel und Weg, aber auch Führung und operatives Geschäft eine größere Chance auf Erfolg.

  • Die, die sich verändern sollen, formieren sich als Führer ihres eigenen Veränderungsprozesses in einer soziokratischen Kreishierarchie.
  • Die Veränderung selbst findet in kleinen Schritten in einem iterativen Vorgehensmodell im Tagesgeschäft statt. (Scrum schreint mir da sehr naheliegend.)
  • Ergebnisse werden wiederum an die Kreishierarchie gemeldet, die als "Kunde" den Weg jederzeit verändern kann.

image

Nach Reflektion des gestrigen Gesprächs scheint mir weniger nicht mehr wirklich zielführend in der heutigen Zeit.

Sonntag, 18. Januar 2009

Agil entscheiden - Soziokratie statt Autokratie und Demokratie [OOP 2009]

Wo positioniert sich Soziokratie im Unternehmen? Welche Struktur hat soziokratische Führung? Diese beiden Fragen habe ich in den bisherigen Postings beantwortet. Das mag für Sie schon teilweise gewöhnungsbedürftig gewesen sein. Aber das ist noch gar nichts ;-) Denn jetzt zur Frage, wie Soziokratie sozusagen innen funktioniert. Wie geht Soziokratie mit dem Feedback um, das in seine Kreishierarchie hineinfließt? Wie entscheidet Soziokratie, wie fassen die Kreismitglieder Beschlüsse? Die Antworten darauf scheiden viele Geister. Nichtsdestotrotz finde ich sie hochspannend, sehr zeitgemäß und kompatibel gerade zur Softwarebranche.

Kritik des Üblichen

Um den Wert der Soziokratischen Methode (SKM) wirklich fühlen und genießen zu können, ist es vielleicht nützlich, sich zunächst die üblichen Methoden zur Führung mit ihren Vor- und insbesondere ihren Nachteilen zu vergegenwärtigen.

Da wäre die altehrwürdige Autokratie. Sie entsteht quasi spontan als default, wenn keine andere Führungsform bewusst gewählt wird. In der Autokratie sagt einer an und die anderen gehorchen. Wer ansagt, hängt von der Organisation ab. Es mag der im Hinblick auf den Zweck der Organisation beste sein, der, der am kenntnisreichsten ist, am schnellsten, am stärksten, am erfahrensten. Oder es ist der, der einfach Macht über andere hat, weil er begehrte Ressourcen verwaltet oder Schaden zufügen kann. Einerlei, denn der Effekt ist derselbe: Anweisungen fließen von oben nach unten durch eine Hierarchie. Informationen von unten nach oben hingegen haben es schwer.

image Die Vorteile der Autokratie: Effizienz und Komplexitätsreduktion. Die Nachteile: Wahrnehmungsschwäche, Starrheit, Arroganz. (Vom vielleicht idealen Fall eines wirklich in der Sache kompetenten Autokraten, der auch noch gütig und offen ist, will ich einmal absehen. Den gibt es eigentlich nur noch in der überschaubaren Welt der Märchen.)

Autokratie ist an sich keine schlechte Führungsform. Sie ist nur ein Mittel, ein Werkzeug, das selbstverständlich in geeigneten Situationen gute Dienste leisten kann. Wenn es schnell gehen soll und ein Autokrat tatsächlich den Überblick hat, dann mag Autokratie sogar die beste Form sein, um im allgemeinen Sinne zu führen.

Angesichts der Komplexität unserer Welt möchte ich jedoch den Begriff "Führung" hier grundsätzlich streichen. Wie im letzten Abschnitt meines vorherigen Postings ausgeführt, wird im operativen Geschäft nicht geführt, sondern koordiniert. Autokratie hat deshalb eigentlich an keinem anderen Einsatzort mehr Zweck als im operativen Geschäft, weil ihre Nachteile der Geschäftsführung in heutigen Märkten im Wege stehen. Also kann Autokratie nur noch geeignet sein für Koordinationsaufgaben. Das sieht die Soziokratie auch so und sperrt sich daher nicht gegen autokratische Strukturen im Tagesgeschäft. Ein Meister darf seine Gesellen autokratisch im operativen Geschäfts koordinieren. Ein Vertriebsleiter darf sein Team im Sinne der Aufgaben des Tagesgeschäftes autokratisch koordinieren. Der Werkschutzleiter darf seinen Sicherheitsleuten auch autokratisch Aufgaben zuteilen - allemal, wenn Gefahr im Verzug ist. Autokratie hat also auch in der heutigen Zeit ihren Wert, weil sie sehr effizient sein kann.

Gerade zur Führung großer und vielfältiger sozialer Systeme ohne äußeres Ziel ist Autokratie aber seit langer Zeit schon aus der Mode gekommen. Ihre Nachteile waren zu gewichtig, als dass sie von der Basis der Hierarchien noch ertragen wurden. Die Menschen wollten nicht immer unter einer Macht über sie leiden. Sie wollten selbst Anteil an der Macht haben, sie wollten sich mehr selbst bestimmen. Deshalb setzen wir heute imagein der Politik und auch in anderen Organisationen auf die Demokratie. Mit der Demokratie bestimmt nicht mehr einer über viele, sondern viele über sicht selbst. Sie führen sich selbst, sie legen zusammen ihre Grundsätze fest, sie treffen gemeinsam Entscheidungen. Ob die Vielen dabei alle direkt zu Wort kommen oder nur vermittels Repräsentanten, ist nicht so wichtig. Den Kern der Demokratie macht die Bestimmung durch eine Mehrheit aus.

Das ist sicherlich ein Fortschritt gegenüber der Autokratie, die letztlich nur die Bedürfnisse des einen Mächtigen berücksichtigt. Aber Demokratie hat auch ihren Preis! Ganz offensichtlich ist sie nicht effizient. Wenn es schnell gehen muss, dann kann man nicht erst zu Diskussion und Abstimmung zusammenkommen. Bei Polizeieinsätzen wird immer noch nicht demokratisch, sondern autokratisch koordiniert. Deshalb ist die Demokratie eigentlich auf die Führung von Organisationen beschränkt. Grundsatzentscheidungen trifft man demokratisch, ausgeführt/koordiniert wird autokratisch.

Weniger offensichtlich ist Demokratie jedoch nicht nur ineffizient, sondern ebenfalls "arrogant". Das bemäntelt sie allerdings nach Kräften. Sie erhebt es sogar zu einer Tugend, sich dieser "Arroganz" zu unterwerfen. Das mag merkwürdig klingen, doch schon ein simples Rechenbeispiel legt den Finger in die Wunde: Wenn ein Verein mit 100 Mitgliedern einen Beschluss mit der üblichen einfachen Mehrheit fassen will - zum Beispiel könnte es um die Farbe des neuen Anstrichs für das Vereinsgebäude gehen -, dann werden die Bedürfnisse von 49 Mitgliedern nicht berücksichtig, wenn sich 51 für Pink entscheiden. Je größer die demokratische Gruppe, desto näher an 50% liegt der Anteil derer, über die eine Abstimmung sich mit einfacher Mehrheit hinwegsetzt! Bei allen Segnungen, die wir durch Demokratie erfahren haben, sollten wir das nicht vergessen. Selbst vielfach vorteilhafte Demokratie darf nicht zum Dogma verkommen. Auch für sie gilt: das Bessere ist der Feind des Guten. Demokratie ist auch nur ein Werkzeug mit bestimmten Eigenschaften und geeigneten Einsatzszenarien und kein Selbstzweck.

"Arrogant" habe ich Demokratie hier etwas polemisch genannt, weil sie sich im Grunde nicht für die Minderheitsmeinung interessiert. Ihre Regel lautet: die Mehrheit bekommt Recht. Für die Mindertheit hat sie nur ein lakonisches "Pech!" übrig. So ist es zumindest am Ende nach einer Abstimmung mit einer Mehrheit. Der Weg dahin kann allerdings steinig sein. Was, wenn es zunächst keine Mehrheit im Sinne des Abstimmungsverfahrens gibt? Vielleicht gibt es zunächst im Verein drei Meinungen zur Farbe des Vereinsgebäudes und hinter keiner stehen die notwendigen 51 Stimmen für einen demokratischen Beschluss. Dann muss zunächst ein Konsens erarbeitet werden zwischen genügend vielen Mitgliedern, um mindestens 51 Stimmen auf eine Farbe zu vereinen.

image Das mag noch trivial sein. Letztlich unterscheidet es sich aber nicht von der Situation, wenn Regierung und Bundesrat von unterschiedlichen Parteien bzw. Koalitionen dominiert werden. Entscheidungen kommen dann erst durch Konsensverhandlungen zustande. Und die können sich sehr, sehr lang hinziehen. (Empfehlenswerte Lektüre dazu: "Konsens ist Nonsens") Das mag zwar vor allem ein Problem des deutschen Föderalismus sein - doch letztlich steckt das Risiko "Konsensfalle" schon in der ihm zugrundeliegenden Demokratie.

Was bedeutet das nun alles für die Unternehmensführung? Die ist zunächst zurecht autokratisch. Nur Autokratie verspricht genügend Effizienz, um den Unternehmenszweck "Gewinnerwirtschaftung für den Eigner" zu erreichen. Der Preis dafür ist allerdings hoch: geringer Wahrnehmungshorizont der Organisation und geringe Motivation der Mitarbeiter.

Alle Mann ins Boot!

Mit dem Gedanken echt orthogonaler Führung im Hinterkopf könnten Sie ja nun aber fragen: Warum nicht die Führung demokratisieren und das operative Geschäft autokratisch lassen? Wären da nicht die Vorteile der Demokratie - viel Feedback durch breite Beteiligung sowie hohe Motivation durch Selbstbestimmung - und Effizienz der Autokratie vorteilhaft verbunden?

Nein! So einfach ist es leider nicht, auch wenn der Gedanke natürlich löblich ist ;-) Das operative Geschäft würde zwar nicht ausgebremst... aber womöglich die Geschäftsführung. Die "Konsensfalle" lauert überall.

Noch schlimmer jedoch: Demokratie löst das Motivationsproblem nicht wirklich. Wie oben schon gesagt sind 49,9...% Prozent der Abstimmenden immer unzufrieden. Darüber langfristig mit dem Hinweis hinwegzugehen, so sei es halt und ein guter Demokrat füge sich der Mehrheit, ist kontraproduktiv. Nicht berücksichtigte Bedürfnisse lassen sich nicht so einfach rational zurückstellen. Jenachdem, worum es bei einer demokratischen Entscheidung geht, wird also nicht nur ein Entschluss gefasst, sondern auch Widerstand in den Untergrund gedrängt.

Der Ansatz der Psychologie ist daher schon lange, Widerstände eben nicht zu verdrängen, sondern entweder aufzulösen oder zumindest zu integrieren. Ein solches Bemühen geht der Demokratie ab. Sie sucht nur die Mehrheit zu finden. Sie reduziert Lösungen auf eine Mindestzahl an Zustimmungen, damit eine Mehrheit entsteht. Warum einer seine Stimme abgibt oder eben nicht wie die Mehrheit stimmt, das ist egal. Am Ende zählen nur Zahlen.

Ob Autokratie oder Demokratie: letztlich führen also beide quasi notwendig zu Unzufriedenheit, die mühsam wieder kompensiert werden muss. Denn unzufrieden ist jeder, der im Entscheidungsprozess nicht gehört wurde. Für kleine Probleme ist das vielleicht unerheblich und wird durch Gehaltszahlung oder Incentives kompensiert. Auf die Dauer jedoch sucht sich Unzufriedenheit andere Kanäle. Dienst nach Vorschrift, ein hoher Krankenstand, geringe Produktqualität können Symptome dafür sein.

Die größte Herausforderung an die Organisation der Führung und ihre Entscheidungsprozesse ist mithin, sowohl einen weiten Horizont zu haben, was die Wahrnehmung von Feedback aus operativem Geschäft und des Markt angeht. Und andererseits möglichst alle Meinungen mit den dahinter stehenden Bedürfnissen zu berücksichtigen. Führung heute bedeutet, wirklich alle ins Boot der Unternehmenspolitik zu bekommen.

Ist das aber nicht unrealistisch? Ist dieser Aufwand wirklich nötig?

Ja, so sieht es wohl aus. Das "Alignment" möglichst vieler ist kein Selbstzweck. Es geht auch nicht um Gutmenschtum. Unternehmensführung mit maximalem Feedback, d.h. Beteiligung möglichst vieler, und Entscheidungsfindung mit maximaler Bedürfnisberücksichtigung ist heute essenziell für nachhaltige Entwicklung des Unternehmens.

Die heutigen Märkte sind sehr veränderlich. Also brauchen Unternehmen feine Sinnesorgane nach außen und innen. Jeder Mitarbeiter ist ein solches Sinnesorgang und hat Interesse am Erhalt seines Arbeitsplatzes. Deshalb hat er ein Interesse, seine Wahrnehmungen weiterzugeben - wenn das denn etwas bringt, wenn er Gehör findet. Das Potenzial für viel Feedback ist also in jedem Unternehmen vorhanden. Jetzt muss eine geeignete Führungsorganisation es nur ausnutzen.

Die heutigen Märkte erfordern hohe Effizienz, Evolution und Innovationen. Die bringen aber nicht bessere Prozesse oder Werkzeuge, sondern am Ende die Menschen. Wo Menschen sich bewusst oder unbewusst weigern, sich einzubringen, da herrscht Ineffizienz, Stillstand, Konvention. Unternehmen tun also gut daran, solchen Sand aus dem Getriebe zu entfernen. Nicht, indem sie auf Menschen verzichten, sondern indem sie die Menschen einbinden. Auch hier geht es darum, das vorhandene Potenzial auszuschöpfen.

Damit ist eng verbunden Aufbau und Erhalt von Erfahrungen. Was können Unternehmen tun, damit gute Leute bei ihnen arbeiten wollen? Was können sie tun, um gute Leute zu halten? Die Antwort ist wieder: sie als ganze Menschen einbeziehen. Nicht nur Arbeitskraft im operativen Geschäft abschöpfen und (gut) bezahlen, sondern auch ihre Meinung erfragen. Wer sich wirklich als Person gesehen und erst genommen fühlt, wechselt nicht so leicht in eine neue (Arbeits)Beziehung.

Feedback, Effizienz, Innovation, Retention: Das sind die Gründe, warum Unternehmen eine Führung etablieren sollten, die sich um die Berücksichtigung möglichst vieler bemüht.

Konsent: Widerstand statt Zustimmung

Autokratie wollen wir nicht, Demokratie bringt es nicht. Wie soll denn dann aber eine Unternehmensführung Entscheidungen treffen? Wenn möglichst viele mit ihren Bedürfnissen und Meinungen berücksichtigt werden sollen, läuft das denn nicht wieder auf zähe Konsensfindung hinaus? Nein!

Konsens ist nicht nötig, um viele Positionen zu integrieren. Die Soziokratie stellt sozusagen die Demokratie auf den Kopf, um dieses Kunststück zu vollbringen. Das Zauberwort heißt dabei Konsent. Dem Deutschen ist es fremd, das Englische kennt es jedoch: consent bedeutet dort soviel wie Einverständnis, Einwilligung, Übereinstimmung, Genehmigung - oder früher sogar Harmonie.

Man mag die lautlich geringe Distanz zwischen Konsent und Konsens beklagen, denn nichts könnte Konsent ferner liegen als Konsens. Aber so haben sich die (deutschen) Soziokraten nun einmal entschieden. In den soziokratischen Kreisen geht es um Konsent. Und das bedeutet: nicht Einwilligung ist gesucht, sondern Berücksichtigung von Kritik.

Konsent konzentriert sich auf Widerstände, statt Zustimmung.

Wenn eine Entscheidung über ein Thema ansteht, dann wird nicht (!) gefragt, wer dafür sei. Und es werden auch keine Gegenstimmen gezählt.

Stattdessen fragt der Leiter eine Soziokratischen Kreises, ob es substanzielle Kritik am zu fassenden Beschluss gibt. Auf den Verein bezogen könnte das so aussehen: "Wir wollen heute eine Entscheidung über den Anstrich des Vereinshauses treffen. Gibt es schwerwiegende Gründe, die gegen einen neuen Anstrich sprechen?" Auf solche Frage kann nun jedes Kreismitglied seine begründeten Bedenken vortragen. Gibt es keine, gilt der Beschluss als gefasst.

Was sind nun aber begründete Widerstände? "Ich finde einen neuen Anstrich unnötig" könnte z.B. die Äußerung eines Kreisteilnehmers des Vereins sein. Ist das schon ein begründeter Widerstand? Nein. Ihm fehlt der Bezug zu Rahmenbedingungen der Organisation. Widerstände müssen aus den Grundsätzen oder der Politik oder der aktuellen Situation abgeleitet werden. "Ein Anstrich in diesem Jahr kann nicht ohne Erhöhung des Vereinsbeitrags bezahlt werden. Die Kasse ist leer." Das wäre eine begründete Kritik, weil sie auf die Budgetsituation verweist. Auch "Für den Anstrich haben wir keine Zeit bis zum Herbst und dann wird das Wetter nicht mehr mitspielen" wäre eine begründete Kritik. Ihr liegen Annahmen zugrunde, die sich verifizieren oder anderweitig berücksichtigen lassen.

Die Soziokratie begrüßt Emotionen als Grundlage von Äußerungen ausdrücklich. Negative Emotionen sind wertvolle Hinweise auf Widerstände, die früher oder später einen negativen Effekt auf die Umsetzung von Beschlüssen hätten. Aber die Soziokratie bleibt nicht bei den Emotionen stehen. Sie nimmt sie auf, geht ernsthaft auf sie ein und versucht, hinter sie zu schauen. Emotionen sind wichtige Informationen, aber keine Entscheidungsgrundlagen an und für sich.

"Ich finde einen neuen Anstrich unnötig" ist zunächst einmal nur eine legitime emotionale Äußerung. Ihr mag Angst vor einer Beitragserhöhung zugrunde liegen oder Unsicherheit in Bezug auf den für den Anstrich nötigen eigenen Arbeitsanteil oder oder oder. Wenn also ein Kreismitglied sich zu solch einer Äußerung entschließt, hakt der Kreis nacht. "Was bedeutet für dich 'unnötig'? Meinst du wirklich, der heutige Anstrich ist noch gut genug? Oder meinst du vielleicht, ein neuer Anstrich sei zu teuer?" Dann muss der "Kritikus" seine Äußerung begründen.

Hört sich das anstrengend an? Ja, vielleicht ist es das zunächst. Sich seiner wahren Beweggründe bewusst zu werden, ist immer anstrengender als einfach nur anonym eine Stimme auf einem Wahlzettel abzugeben oder auch nur die Hand für eine Wahlmöglichkeit zu heben.

Doch diese Anstrengung jedes Einzelnen lohnt sich für das große Ganze:

  • Wenn der Konsent-Prozess nach Widerständen fragt, dann fragt er nach Wahrnehmungen. Nimmt die Kreisversammlung durch ein Mitglied etwas wahr, das einem Beschluss entgegensteht? Daraufhin kann sich natürlich auch ein Repräsentant eines untergeordneten Kreises mit Bedenken melden. Wahrnehmungen auch aus den entlegendsten Organisationsteilen können so zu Bewusstsein der Führung gebracht werden.
  • Wenn im Konsent-Prozess alle Kreismitglieder gleichberechtigt sind und jede Äußerung willkommen ist, dann muss sich niemand mehr ausgeschlossen fühlen. Jedem wird Gehör geschenkt - sogar so ernsthaft, dass es womöglich erstmal ungemütlich ist.

Das wirkt in Summe einer Kultur des Abnickens entgegen. Niemand muss mehr überzeugt sein. Es reicht, wenn es keinen substanziellen Widerspruch mehr gibt. Und das ist nicht dasselbe wie Zustimmung. Soziokratie ist integrativ, wo Demokratie nur Stimmen zählt. Das Argument zählt und muss keine Angst vor einem unbegründeten Veto haben. Es gibt kein Vetorecht im soziokratischen Kreis.

Agil entscheiden

Indem die Soziokratie darauf verzichtet, zunächst erst mühsam eine Mehrheit zu bilden, um anschließend die schwelenden Widerstände der Überstimmten im operativen Geschäft zu überwinden, ist sie schon effizienter als Demokratie.

Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie aber noch mehr: Soziokratie hat auch keinen Perfektionsanspruch. Es geht nicht darum, die beste Lösung für alle zu finden. Die muss Demokratie nämlich quasi zwangsläufig insofern anpeilen, weil nur sie mehrheitsfähig ist. Soziokratie hingegen begnügt sich mit "gut genug". Auch das macht sie schnell. Denn "gut genug" ist, was keinen begründeten Widerstand mehr hervorbringt.

SKM institutionalisiert somit die Heuristik des Satisficing: Eine Entscheidung wird getroffen, wenn alle Anforderungen grundsätzlich "irgendwie" erfüllt sind. Ein Kreis wartet nicht auf ein Optimum. Es reicht, wenn es nicht mehr zu schlecht ist und ein Fortschritt erzielt wird.

Insofern geht es auch nicht mehr um ganz bestimmte Entscheidungen. Durch die vorgebrachten Widerstände in der Vereinskreissitzung kann z.B. das Ziel verändert werden. Der SKM-Kreis lässt dann vielleicht das ursprüngliche Thema "Neuanstrich des Vereinsgebäudes" los zugunsten eines anderen wie "Neuanstrich nur des Geräteschuppens in diesem Jahr", weil das keinen Widerstand aufgrund knapper Vereinsfinanzen mehr hervorruft.

SKM gleicht darin Scrum. Scrum will auch kein bestimmtes Feature umsetzen, sondern nur dafür sorgen, dass Anforderungen nach Priorität und Machbarkeit in Iterationen abgearbeitet werden. Genauso liegt SKM auch nichts an inhaltlich ganz bestimmten Beschlüssen, sondern nur daran, Fortschritt ohne begründeten Widerstand sicherzustellen.

Dass es dazu eines guten Kreisleiters bedarf und einer gewissen Disziplin wie Offenheit bei allen Kreismitgliedern, ist selbstverständlich. Deren (Aus)Bildung ist denn auch viel Zeit vor und während der Einführung von Soziokratie als Führungsmethode gewidmet.

Interessanterweise wirkt nun dieser Satisficing-Anspruch zurück auf den Konsent-Prozess. Denn wo Entscheidungen nicht mehr optimal oder in ganz bestimmter Weise getroffen werden müssen, da äußert sich erstens Widerstand leichter - andererseits wird er aber weniger schnell zum Selbstzweck. Denn wer heute nur ein schlechtes Gefühl hat und seine Kritik noch nicht begründen kann, der findet jederzeit Gehör, wenn er dafür bereit ist.

Das sorgt dann ganz natürlich dafür, dass SKM-Kreise zu weniger irreversiblen Entscheidungen tendieren. Ganz ausschließen kann man sie nicht, doch die Mitglieder werden sensibler ihnen gegenüber. Denn jeder irreversible Beschluss schränkt ja die durch SKM geschenkte Freiheit für berechtigte Kritik ein. Soziokratische Arbeit ist sozusagen ein natürliches Gegenmittel gegen BDUF (big design upfront) in der Geschäftsführung.

Die von der Soziokratie abgeleitete Holacracy formuliert das in einem Interview mit ihrem Begründer Brian Robertson so:

"Finally, and by far most importantly, [consent] changes the nature of decision-making and process control - the 'steering' of an organization or team - from a predict-and-control model to an experiment-and-adapt model. And that changes everything."

Soziokratisch wählen

image Soziokratische Kreise treffen alle Entscheidunge im Konsent. Das gilt also auch für Personalentscheidungen. Wo der Autokrat bestimmt, der Demokrat (geheim) wählt, da sucht der Soziokrat offenen Konsent. Besetzungen folgen deshalb einem Protokoll:

  1. Alle Kreismitglieder tragen ihren Besetzungswunsch auf einem Zettel mit ihrem Namen ein. Der Leiter sammelt die Zettel.
  2. Dann begründen alle Kreismitglieder reihum ihren Wunsch.
  3. Dann haben die Kreismitglieder die Möglichkeit, aufgrund der Begründungen der anderen ihren Besetzungswunsch nocheinmal zu verändern.
  4. Aus den nun vorliegenden Besetzungswünschen ermittelt der Kreisleiter einen Favoriten.
  5. In Bezug auf den Favoriten wird Konsent gesucht.

Solch offene "Wahl" mag merkwürdig anmuten. Aber letztlich ist das Vorgehen konsequent. Bei ansonsten offenem Konsent wäre es inkonsequent, gerade Besetzungsentscheidungen geheim zu treffen. Und da am Ende ohnehin die "Wahl" im Konsent stattfindet, kann in einer Vorrunde auch offen über Vorschläge gesprochen werden.

Zusammenfassung

imageBei den Borgs aus dem Enterprise-Kosmos mag Widerstand zwecklos sein. Bei Soziokratie hingegen ist er gewünscht. Begründeter Widerstand ist der Hebelpunkt für soziokratische Entscheidungen. Geäußerter Widerstand kann keine Kraft mehr im Untergrund entfalten. Geäußerte Bedenken sind wertvoller Input vor jeder Entscheidung. Willkommene Kritik ist ernsthafte praktische Wertschätzung jedes Einzelnen.

Soziokratie realisiert mit dem Konsent-Prinzip das Versprechen der Demokratie und macht Führung gleichzeitig sensibel und effizient. Mit Soziokratie hält die Essenz der Agilitätsbewegung Einzug in die Unternehmensführung.

Deshalb empfinde ich die Softwarebranche als prädestiniert für die Einführung von Soziokratie. Sie ist mit den Grundgedanken schon vertraut. Und sie kann angesichts ihrer hohen Geschwindigkeit jedes Bisschen Effizienzgewinn in der Unternehmensführung gebrauchen. Und nicht zuletzt geht Soziokratie das Problem der Mitarbeiterbindung in Zeiten des IT-Fachkräftemangels an. Denn wer kann es sich leisten, Mitarbeiter zuverlieren, wenn es so schwer ist, gute neue zu finden?

Soziokratie mag gewöhnungsbedürftig sein. Nicht nur für die, die ihre "Macht über" aufgeben sollen. Aber ich glaube, dass in ihr echtes Potenzial zu nachhaltigerer Unternehmensführung steckt. Zufriedenheit, Qualität und Produktivität sind gleichermaßen Anliegen der SKM.

Freitag, 16. Januar 2009

Alles Führen ist in Kreisen - Die soziokratische Kreisorganisation [OOP 2009]

Soziokratische Geschäftsführung führt iterativ. Die Grundlage ist eine Lernschleife aus Messen, Reflektieren/Beschließen, Handeln - ganz ähnlich wie bei Scrum. Der soziokratische Führungsprozess ist also ein Kreisprozess.

image 

Jetzt die Frage: Wie ist denn die Geschäftsführung in der Soziokratie organisiert? Zur Organisation des operativen Geschäftes sagt die Soziokratie nichts Spezielles. Sie ist vielmehr Ergebnis soziokratischer Geschäftsführung. Wenn die beschließt, das operative Geschäft hierarchisch zu belassen, dann ist das ok. Die soziokratische Theorie mischt sich also nicht in die Praxis des operativen Geschäftes ein. Sie gibt nur einen Rahmen vor, wie eine angemessene Organisation dafür gefunden werden soll. Welche das dann ist, ist der Soziokratie (oder Soziokratischen Methode, SKM) einerlei.

Insofern ist die Soziokratie als Methode auch leer. Sie ist auf kein spezifisches Geschäftsfeld zugeschnitten. Auch hier wieder Ähnlichkeit zu Scrum. Scrum ist ebenfalls leer. Ob Sie Software mit Scrum entwickeln oder eine Party planen, das ist Scrum einerlei. Scrum ist eine Methode zur Produktion von Lösungen bei wechselnden oder unklaren Anforderungen eines Kunden. SKM ist eine Methode zur Entwicklung von nachhaltigen Organisationen in einer volatilen Umwelt. Scrum ist nicht auf Softwareentwicklung festgelegt. SKM ist nicht auf Unternehmen festgelegt und schon gar nicht auf bestimmte Branchen. Mit SKM können Sie auch einen Verein führen.

Der Kreis als Grundbaustein soziokratischer Führungsorganisation

Also, wie sieht die Struktur soziokratischer Führung aus? Auch hier steht der Kreis im Mittelpunkt. Allerdings nicht als Prozess, sondern als Ort. Alles Auswerten von Feedback und Diskutieren und Beschließen von Veränderungen geschieht in Kreisen. (Mir fallen dazu gerade die früheren Versammlungen der Germanen ein, Thing genannt. Auch dort kam man im Kreis an der Thingstätte zusammen. Doch die Ähnlichkeit mit den SKM-Kreisen ist natürlich nur sehr weitläufig. Vor allem, weil SKM in der Durchführung von Kreissitzungen keine Regel für´s Betrinken zur Lockerung der Zuge kennt ;-)

Der Kreis fasst gleichberechtigte Teilnehmer zusammen und hat einen Leiter. Wie in dem Kreis gearbeitet wird, beschreibe ich in einem nächsten Posting. Heute geht es mir nur um die Struktur der SKM-Geschäftsführung.

image

Der Leiter des Kreises ist natürlich kein autokratischer Chef, sondern eher ein Moderator. Er leitet den Kreis im Sinne eines soziokratischen Prozesses durch Kreissitzungen.

Was bedeutet das für das Beispielunternehmen SoftWunder aus meinem früheren Posting? Das Unternehmen könnte auf die Führung durch einen soziokratischen Kreis umstellen:

image

Die bisherige hierarchisch autokratische Geschäftsführung wäre jetzt allerdings nur in einen Kreis umgewandelt. Das ist möglich und legitim, schöpft das Potenzial von SKM allerdings nicht aus. Wenn schon Änderung der Geschäftsführungsphilosophie in Richtung "lernende Organisation", warum dann nicht richtig? Bei einem so kleinen Unternehmen wie SKM wäre es möglich oder gar naheliegend und angezeigt, das gesamte Personal in einem geschäftsführenden Kreis zu organisieren:

image

 

Da haben wir nun den Salat. SKM ist eine partizipative Methode. SKM fördert die Einbindung sovieler Menschen wie möglich in unternehmerische Entscheidungsprozesse. Der Grund dafür ist ganz einfach: mehr Menschen in der Führungsorganisation liefern mehr Feedback. Feedback von innen aus dem operativen Geschäft und Feedback von außen, vom Markt. Im Sinne des Agilitätsmanifestes könnte man vielleicht sagen: "people over reports". Statt Feedback durch vorgegebene Kanäle zu schicken, besser direkt in einem Kreis geben.

Viele Menschen in SKM-Kreise einzubeziehen, ist aber nicht nur ein Vorteil für die Lernfähigkeit des Unternehmens! Durch solche Partizipation wird auch noch das allgegenwärtige Motivationsproblem angegangen. Wo die Literatur sich mit Ideen zur Motivation von Mitarbeitern überschlägt, setzt Soziokratie ein ganz simples Mittel dagegen: Teilnahme. Lass die Menschen teilnehmen, gib ihnen ernsthaft die Möglichkeit, sich einzubringen, dann fühlen sie sich wertgeschätzt und sind motiviert. Soziokratie ist insofern eine sinnstiftende Methode. Und Sinnempfinden ist der Motivator schlechthin. (Das hat übrigens die Motivationsliteratur auch schon gemerkt ;-)

Soziokratie ist also schon eine kleine Revolution. Zumindest werden es viele eingefleischte Führungspersonen in traditionellen Hierarchien so empfinden. "Wo kommen wir denn hin, wenn jeder bei der Geschäftsführung mitreden kann?" Nun, SKM sagt: Wir kommen weiter.

Soetwas lässt sich natürlich nicht gegen den Willen von Menschen einführen. Vor allem nicht gegen den Willen der bisherigen Geschäftsführung. Aber wenn die überzeugt ist, dann steht dem Versuch wenig im Wege, SKM einfach auszuprobieren. Ob die allgemeinen Bedenkenträger Recht behalten oder erstaunt feststellen, dass SKM doch funktioniert, wird sich zeigen. Soziokratie garantiert insofern auch kein Gelingen. Wie bei Scrum oder andere Praktiken muss die Veränderung zu ihr hin auch in einem Lernprozess stattfinden. Und so wie es Scrum Master gibt, so bildet die Soziokratie auch für ihre Einführung und Durchführung Begleiter aus. Im Vergleich zu Scrum steckt das allerdings noch in den Kinderschuhen.

Nochmal: Ein SKM-Kreis versammelt Menschen zu einer soziokratischen Unternehmensführungsgemeinschaft. Die ist innerhalb der Kreises nicht hierarchisch. Deshalb wird innerhalb eines Kreises nach gewissen Protokollen vorgegangen, um gemeinschaftlich zu Entscheidungen zu kommen. Dazu ein andermal mehr. Kreise handeln gegenüber dem operativen Geschäft, sie delegieren dorthin Leitung und Ausführung und messen den Effekt ihrer Handlungen. Messungen werden auch an Kreisteilnehmer als Aufgabe delegiert; ansonsten ist aber auch jedes spontane Feedback von Kreisteilnehmern erwünscht. Alle sind im Kreis gleichberechtigt. Wenn Lehrling und Meister in einem Kreis zusammenkommen, dann gibt es keinen Vorrang durch Ausbildungsstand. Jeder trägt nach Kräften bei.

Außerhalb der Kreise kann das Verhältnis hingegen ganz anders sein! Wie oben schon gesagt, macht SKM keine Aussage über eine "richtige" Organisation des Tagesgeschäftes. Die entwickeln die Teilnehmer der SKM-Kreise nach den Bedürfnissen ihres Unternehmens. Im operativen Geschäft kann es also weiterhin Hierarchien geben. Die sind jetzt aber fokussiert eben auf das Tagesgeschäft. Bei SoftWunder darf der Vertriebsleiter Heinz also weiterhin seine Außendienstler einteilen und ihnen Anweisungen geben. Ganz autokratisch. Seine "Befehlsgewalt" ist jedoch beschränkt auf das operative Geschäft! Sie bezieht sich auf die Sache, hier: den Verkauf.

Sobald Heinz dann mit Rolf und Volker im SKM-Führungskreis zusammensitzt, ist er ihnen gleichgestellt. Dann können die beiden an ihm vorbei Feedback in den Kreis geben, dem auch der Unternehmenseigener angehört. Das kann sich natürlich auf die Befehlsausübung durch Heinz beziehen. So üben sie Macht miteinander aus, statt übereinander.

Soziokratie und Autokratie vertragen sich also. Das ist ganz passend zum sonstigen Leben: Manchmal muss man handeln und nicht diskutieren. Dann sind klare Prozesse und auch Befehlsketten sinnvoll. Aber immer öfter muss man halt im Geschäftsleben nicht nur handeln, handeln, handeln, sondern auch mal nachdenken; und zwar über möglichst breite Wahrnehmungen. Organisationen  müssen nachdenken. Dafür schafft Soziokratie eine "Bewusstseinsinstanz" mit maximaler Reichweite ihrer Fühler ins Unternehmen hinein.

Skalieren mit Kreisen

SoftWunder ist klein. Das operative Geschäft könnte wohl durch einen Kreis geführt werden. Vielleicht stellt sich dabei aber auch heraus, dass das zu schwerfällig ist. Vielleicht sollten viele Mitarbeiter nur gelegentlich in einem Kreis zusammenkommen, wenige jedoch häufiger. Die Geschäftsführung kann dann auf mehrere Kreise in einer Hierarchie verteilt werden. Das gilt auch für Organisationen, die mehr Menschen umfassen, als sich praktikablerweise in einem Kreis zusammenfassen lassen. Für effektive und effiziente Diskussionen in einem Kreis sollte die Obergrenze wahrscheinlich bei 50 Teilnehmern liegen. Letztlich macht die Soziokratie darüber jedoch keine Aussage, sondern bietet ganz allgemein, Kreise in einer Hierarchie anzuordnen. Und das geht so:

 image

Jetzt besteht die Geschäftsführung von SoftWunder aus einer Kreishierarchie mit zwei Ebenen. Auf der oberen Ebene 1 hat der Kreis 4 Mitglieder, auf der unteren Ebene 2 sind es 9. Das sind zusammen 13 Teilnehmer an Kreisen bei 11 Mitarbeitern. Wie kann das sein? Des Rätsels Lösung liegt in der soziokratischen Doppelbindung von Kreisen:  Übereinanderliegende Kreise sind durch je mindestens 2 Personen miteinander verzahnt. Diese Personen sind Mitglied sowohl im unteren wie im oberen Kreis. Sie bilden die Schnittmenge der beiden Kreise. Die Soziokratie drückt das in ihren kanonischen Bildern durch überlappende Dreiecke aus:

image

Warum diese Doppelbindung? Sie sorgt dafür, dass der Informationsfluss erstens immer persönlich ist und zweitens in beide Richtungen läuft. Wären die Hierarchieebenen nicht gekoppelt, dann würde eine obere die untere nicht persönlich über ihre Beschlüsse informieren, sondern mittels Dokumenten. Auch wäre die obere Ebene an den Diskussionen der unteren nicht persönlich beteiligt. Das würde bürokratischen Prozessen statt effizienten, lernenden Vorschub leisten. Die Umsetzung von Beschlüssen von oben nach unten durch die Kreishierarchie wäre behindert. "Die da oben" wären wieder nur "anonyme Herrscher". Indem jedoch ein gleichberechtigtes Mitglied des oberen Kreises ebenfalls gleichberechtigtes Mitglied des unteren ist, garantiert Soziokratie verlustfreie Übersetzung im Sinne ineinandergreifender Zahnräder. Und da Hierarchien den Zweck haben, Entscheidungen von oben nach unten zu verbreiten, ist das Mitglied, das der obere an den unteren Kreis delegiert, sogar der Leiter des unteren Kreises! In dieser Rolle "herrscht" dieses Mitglied zwar nicht über den unteren Kreis, aber es leitet ihn zumindest mit Blick auf die Interessen des oberen Kreises.

Kreise in einer Hierarchie sind deshalb nur halbautonom. So frei und gleichberechtigt ihre Mitglieder sind, es werden ihnen schon Weisungen "von oben" zuteil. Aber erstens wird die Erarbeitung solcher Weisungen durch soziokratische Protokolle in Bahnen gelenkt, die maximal kompatibel mit den Bedürfnissen aller Ebenen sind. Zweitens kann ein Kreis immer noch selbst über die Interpretation der Weisungen entscheiden - wobei der von oben delegierte Leiter bei der Auslegung hilft. Und drittens, fließt Information eben nicht nur von oben nach unten.

Gekoppelt sind die Kreise nämlich nicht nur von oben nach unten durch den Leiter, sondern auch von unten nach oben durch einen Repräsentanten. Der untere Kreis entsendet auch einen "Interessenvertreter" in den oberen Kreis, in dem er gleichberechtigt zu allen anderen Kreismitgliedern ist. So fließt Feedback ungehindert von der Basis zur Spitze. Das ist einer der wichtigstes Aspekte der Soziokratie.

In der Autokratie fließen Weisungen nur von oben nach unten. Aber auf welcher Grundlage werden sie beschlossen? Eine persönliche Präsenz von Informationen der Basis "in höheren Gefilden" gibt es nicht. Führungskräfte leben dort im ständigen Spagat. Sie sind hin und her gerissen zwischen den Interessen der oberen und unteren Ebene, an deren Schnittstelle sie sitzen. "Nach oben ducken, nach unten treten" ist ein typisches Symptom dafür. Kommt unliebsames Feedback von unten, ist es für sie leicht, seinen Fluss nach oben zu sperren.

In der soziokratischen Kreishierarchie kann das nicht passieren. Niemand muss dort ambivalent sein. Der von oben delegierte Leiter kann in angemessener Manier die Interessen des oberen Kreises im unteren vertreten. Und der Repräsentant des unteren Kreises im oberen die seines Heimatkreises. Und wenn es die Situation verlangt, kann der untere Kreis auch mehr als eine Person in den oberen Kreis delegieren oder den einen Repräsentanten durch einen anderen ersetzen.

Die Doppelbindung der Kreise fügt also eine feste Kette die maximal Durchlässig ist für Informationen in beide Richtungen. Die Pfeile über die Schnittmenge hinweg im vorstehenden Bild der SoftWunder-Kreishierarchie sollen das versinnbildlichen.

Im Kreissaal der Kreise

Aus wievielen Kreisen sollte eine soziokratische Kreishierarchie bestehen? Aus einer angemessenen Anzahl. Die Soziokratie macht da keine Vorschriften. Es gilt jedoch: Je mehr Menschen einer Organisation in den Kreisen vertreten sind, desto besser kann die Geschäftsführung die Bedürfnisse aller berücksichtigen. Das erhöht die Motivation der Mitarbeiter - und sensibilisiert gleichzeitig die Wahrnehmung von Feedback.

Mit wievielen Kreisen Soziokratie in einer Organisation aufgesetzt wird, ist daher unternehmensindividuell verschieden. Ebenso der Ort, d.h. wo in der bisherigen autokratischen Hierarchie. Sie kann an der Spitze beginnen oder an der Basis oder auch in der Mitte. Denn wo ein Kreis ist, da kann jederzeit ein zweiter daraus entstehen. Kreise können sozusagen weitere Kreise gebähren. Ein großer kann sich aufspalten, ein kleiner kann andere zu einem Kreis zusammenschließen - eine organisationsentwickelnde Maßnahme! - und anbinden.

image

Veränderungen an der Kreishierarchie sind immer möglich. Es können sogar "Task Force"-Kreise mit begrenzter Laufzeit gebildet werden ganz im Sinne der Spike Solutions von eXtreme Programming. Wesentlich ist nur immer wieder die Doppelbindung zwischen den Kreisen.

Wie die Kreishierarchien für SoftWunder schon angedeutet haben, ist die Hierarchie der Kreise auch unabhängig von den weiterhin durchaus bestehenden Hierarchien des operativen Geschäftes. Es gibt keinen Zwang, für jede operative Abteilung einen eigenen Kreis aufzumachen. Entwicklung, Vertrieb, Sekretariat müssen sich in der orthogonalen soziokratischen Geschäftsführung nicht in eigenen Kreisen widerspiegeln. SoftWunder könnte durch verschiedene Kreishierarchien geführt werden:

image

Auch wenn die bisherige Hierarchie in einem Unternehmen eine spiegelbildliche soziokratische Hierarchie nahelegt, so sind Sie nicht daran gebunden. Sie können nach Gesichtspunkten der Akzeptanz, des Wahrnehmungshorizonts für Feedback (Messung), der Umsetzung (Implementation der Geschäftsführungspolitik), der Sinnstiftung usw. immer wieder neu entscheiden, wie die Kreishierarchie aussehen soll.

Soziokratische Führung produziert deshalb auch nicht nur operative Strukturen, sondern ebenfalls ihre eigenen. Soziokratie ist essenziell reflexiv.

image

Aus diesem Grund ist Soziokratie auch besonders für wachsende Unternehmen geeignet. Sie in einem großen, hierarchisch festgefügten Unternehmen einzuführen, mag schwerer sein als in einem noch kleinen. Hier wie so oft gilt: je früher desto besser. Wer im Kleinen schon Soziokratie geübt hat, dem fällt es später im Großen leichter. Denn Soziokratie skaliert! Sie lässt sich in kleinen Unternehmen wie SoftWunder praktizieren. Oder sogar in noch kleineren, denn eigentlich geht es schon mit 2 Personen los. Die können einen von ihrem operationalen Geschäft getrennten Kreis für dessen Führung bilden. Auch wenn sie sonst den ganzen Tag am selben Schreibtisch sitzen, verhalten sie sich anders, wenn sie ihre "Soziokratiehüte aufsetzen". Dann verhalten sie sich den soziokratischen Regeln konform und kommen auf anderem als üblichem Weg zu Beschlüssen.

Nach oben gibt es keine Grenze für Soziokratie: 2, 20, 200, 2.000 oder auch 20.000 Menschen lassen sich soziokratisch führen. Ein Beispiel gibt davon einen Eindruck:

image

Diese Kreishierarchie umfasst alle 281 Mitarbeiter eines Mittelständischen Unternehmens. Die Zahl der Teilnehmer eines Kreises ist die darin notierte Summe. Der zweite und dritte Summand bezeichnen jedoch Mitglieder, die von einem oberen oder unteren Kreis delegiert sind. "4+1+2" bedeutet: 7 Kreismitglieder, davon 1 Leiter von oben delegiert und 2 Repräsentaten von unten delegiert. Die Mitarbeiterzahl ergibt sich also aus der Addition nur der ersten Summanden.

Nochmal, weil es so wichtig ist: Mit einer flachen Hierarchie (3 der Basis übergeordnete Ebenen) und insgesamt 15 Entscheidungsinstanzen führen 281 Mitarbeiter sich selbst. Alle Mitarbeiter sind an der Unternehmenspolitik, an ihren Grundsatzentscheidungen beteiligt! Und alle finden durch die doppelte Bindung bei Bedarf Gehör bis in den obersten Kreis. Das Unternehmen ist partizipativ selbstorganisiert.

Wer das gern etwas weniger abstrakt möchte, der findet in  "Die kreativen Kräfte der Selbstorganisation" dazu eine kleine Geschichte.

Ausflug Zum Begriff Führung

In diesen Blog-Postings benutze ich immer wieder den Begriff "Führung" für das, was die soziokratische Kreishierarchie tut. Die Kreise führen das operative Geschäft. Sie sind die Geschäftsführung.

Was ist das aber, was ein Geselle auf der Baustelle mit einem Lehrling macht, wenn der ihm eine Aufgabe zuweist? Ist das nicht auch Führung?

Hm... im weiteren Sinn ist das natürlich auch Führung. Der Geselle führt den Lehrling physisch zu seinem Einsatzort und inhaltlich zu seiner Aufgabe.

image Wenn von "Unternehmensführern" gesprochen wird oder in einem Buchtitel wie "Führen, Leisten, Leben" von Fredmund Malik der Begriff  "Führung" auftaucht, dann steckt dahinter allerdings mehr als Aufgabenzuweisung im Tagesgeschäft und Ergebniskontrolle. "Führung" im engeren Sinn ist - zumindest für mich und deshalb gebrauche ich den Begriff hier - mehr als Lenkung oder Koordination von Menschen in Prozessen des Tagesgeschäfts.

Führung steht über dem Tagesgeschäft oder außerhalb seiner. Führung definiert die Rahmenbedinungen innerhalb derer das Tagesgeschäft koordiniert wird. Führung reflektiert über den Verlauf der Geschäftsprozesse, die Effizienz der operativen Organisation und entwickelt beide. Insofern führt Führung nicht Menschen, sondern eine Organisation: die operative Suborganisation eines Unternehmens. Führung findet selbst dann natürlich auch in einer Suborganisation statt - die sie wie oben gezeigt auch reflexiv führt.

Dazu kommt aber dann doch auch noch der Mensch. Gute Führung heute hat den Menschen im Blick. Sie ist an ihm interessiert, will ihn entwickeln und stiftet Sinn.

Und es ist auch wegen dieser Bedeutung, die der Begriff "Führung" für mich hat, dass ich das, was Soziokratie will, als Führen bezeichne. Kurz und knapp. Andere würden vielleicht modern "governance" dazu sagen: soziokratische Governance. Das wäre für mich auch ok. Aber warum nicht den schlichten Begriff "Führung" verwenden?

Dass dann im Tagesgeschäft auch Führung "passiert", weil sich Kopf und Herz nicht ausschalten lassen und auch nicht ausgeschaltet werden sollen, sobald man vom soziokratischen Kreis wieder an den operativen Schreibtisch wechselt, das ist klar. Dem großen Zweck der Führung durch Soziokratie tut das aber ja keinen Abbruch.

Soziokratie führt also umfassend und im Großen eine Organisation. Sie definiert Grundsätze, bestimmt die Organisationspolitik, stiftet Sinn durch Einbeziehung möglichst vieler.

Was dann in der Umsetzung, im Tagesgeschäft, im Kleinen getan wird... nun, das nenne ich mal vor allem Koordination. Im Sinne von Prozessen und Aufgaben werden Menschen und Ressourcen in und durch mehr oder weniger tiefe Hierarchien koordiniert. Das schöne an diesem Begriff ist, dass er so wenig vorbelastet ist. In ihm schwingt nicht die Macht mit, die in "Management" oder auch noch "Leitung" steckt. Wo koordiniert wird, geht es also gar nicht mehr um Macht, sondern um Aufgabenbewältigung.

Macht übt nur die soziokratische Hierarchie über das operative Geschäft aus. Aber das ist nur noch eine Macht über eine Suborganisation und nicht mehr über Menschen. Denn die Menschen, die von dieser Macht betroffen sind, stecken ja im "Machtorgan". Sie sind es selbst. Sie sind beteiligt in den soziokratischen Kreisen. Deshalb spricht die Soziokratie immer wieder auch von "Macht mit" statt "Macht über".

So wie Soziokratie und operatives Geschäft bildlich durch Orthogonalität und Kreisprozess deutlich getrennt sind, so trennen die Begriffe Führung und Koordination die unteschiedlichen Aspekte im Wort.

Mittwoch, 14. Januar 2009

Führung in Schleifen - Rückkopplung als Fundament der Soziokratie [OOP 2009]

Um agile Unternehmensführung mit Soziokratie zu verstehen, ist es nützlich, Unternehmensführung deutlich getrennt von den sonstigen Tätigkeiten eines Unternehmens zu sehen. Wie dadurch die Darstellung eines Unternehmens klarer wird, habe ich in meinem vorherigen Posting zum Thema beschrieben. Geschäftsführung versteht man am besten orthogonal zum operativen Geschäft. Geschäftsführung hat einen anderen Zweck und wird zu einem großen Teil von anderen Menschen betrieben, als die Erledigung des Tagesgeschäftes.

image

 

Das Tagesgeschäft bezieht sich auf die Produkte des Unternehmens, seine Leistungen für Kunden. Es erfüllt Anforderungen des Marktes. Geschäftsführung (oder verkürzt: Führung) hingegen ist von außen eher nicht zu sehen. Wenn ein Geschäftsführer in Erscheinung tritt, dann weniger in seiner Geschäftsführerrolle, laut der er die Organisation entwickeln soll. Öffentlich werden Geschäftsführer vielmehr in Rollen des Verkaufs oder des Marketings. Dann stehen sie direkt für ein Produkt ein oder für das den Produkten unterliegende Unternehmensimage.

Einschub bevor ich es vergesse: Streng genommen mag Soziokratie zwar nicht agil sein, zumindest nicht im Sinne der softwaretechnischen Agilitätsbewegung. Dennoch bezeichne ich Soziokratie hier so, weil sie für mich den Kern der Agiltitätsbewegung genauso wie Scrum verkörpert: kühn voranschreiten und sich unterwegs anpassen. Lieber in Kontakt sein, zuhören, lernen und dann ein kleines Bisschen besser werden, als autistisch und (über)lange von einem Wissensmonopol aus planen.

rekursiv gekoppelte Unternehmensführung

Führung ist also orthogonal zum operativen Geschäft. Womit sich das operative Geschäft befasst, wie seine Organisation strukturiert ist, welchen Grundsätzen das Unternehmen folgt und ganz allgemein wie die Unternehmenspolitik aussieht: das ist Gegenstand der Geschäftsführung. Aber wie steht sie mit dem operativen Geschäft in Kontakt? Die Antwort darauf ist leider recht betrüblich: Der Kontakt zwischen Führung und Tagesgeschäft ist meist recht einseitig. Geführt wird heute immer noch oft durch eine Einbahnstraße hindurch, d.h. autokratisch. Der Chef sagt an, die anderen spuren. Von oben nach unten durch die übliche Organisationshierarchie.

image

Das wird durch die konzeptionelle Freistellung der Geschäftsführung auch nicht besser. Nur klarer.

image

Die Instanz, die durch die Einbahnstraße führt, kann sich nicht mehr im Organigramm verstecken. Management ist Management.

Für die weitere Darstellung vereinfache ich das Bild allerdings nochmal. Dann kann ich den Unterschied, den Soziokratie bedeutet, einfacher darstellen.

image

Es bleibt dabei: Heutige Geschäftsführung als Ganzes ist autokratisch gegenüber der Operation - und in sich natürlich auch von oben nach unten. Da folgt sie ganz Conways Gesetz, würde ich sagen. Hierarchische Führung kann nicht wirklich etwas anderes "denken" als ein hierarchisches operatives Geschäft und eigentlich auch keine anderen Beziehungen in der Umwelt.

Was bedeutet nun solche "Einbahnstraßenführung"? Ihr Ideal ist es, alles schon zu wissen und im Tagesgeschäft nur noch Befehle erteilen zu müssen. Autokratische Führung geht also von der Möglichkeit aus, dass wenige alles nötige über das Unternehmen und seine Umwelt wissen und daraus auch noch die notwendigen Schlüsse für nachhaltige Unternehmungen ziehen können.

So das etwas vereinfachte Modell heutiger Geschäftsführung. Soviel zur Hybris vieler heutiger Geschäftsführungen.

Das meine ich gar nicht mal so bös, wie es klingen mag. Dieses Führungsmodell ist legitim und war in den vergangenen Jahrhunderten oft erfolgreich. Wir sind es einfach gewohnt. Womöglich zu gewohnt, um es grundlegend in Frage zu stellen.

Warum spreche ich trotzdem von Überheblichkeit und Selbstüberschätzung? Weil das Fundament dieses Führungsmodells nicht mehr trägt, man sich aber dennoch daran festklammert. Nicht mehr tragfähig ist die Annahme, dass wenige genug wissen können, um Unternehmen sicher nachhaltig erfolgreich zu führen. Das ist nicht nur bei großen Konzernen so, die eins ums andere Mal ins Trudeln geraten. Das ist schon so bei der kleinen Softwareschmiede. Solch hierarchische Führung kann selbst in einem Beispielunternehmen wie SoftWunder (s. vorheriges Posting) nicht mehr genug wissen. Markt und Technologien ändern sich zu schnell.

Früher, da mag das anders gewesen sein in Manufakturen und Handwerksbetrieben. Und auch noch Anfang des letzten Jahrhunderts als einzelne Unternehmen zu volkswirtschaftlich relevanten Organisationen wurden. In Märkten des Mangels war es einfach, die Bedürfnisse zu erkennen und effiziente Organisationen zu entwerfen. Die vorherrschenden Wünsche mit immer besser werdender Massenware zu befriedigen, war recht mechanisch zu erledigen.

Inzwischen hat sich das Bild allerdings durch eben diese Produktionsweise geändert. Heute sind die Märkte gesättigt. Kreativität ist gefragt. Flexibilität ist gefragt. Noch höhere Effizienz ist gefragt. Noch mehr Signale sind zu verarbeiten, da der Markt letztlich für quasi alle global ist. Und das alles ist mit der bisherigen hierarchischen Geschäftsführung in Einbahnstraße nicht mehr möglich. Wo die Umwelt komplex geworden ist, muss auch die Organisation komplex werden. Das ist ein Naturgesetz: eine bestimmte Komplexität lässt sich nicht mit weniger Komplexität bewältigen. Hierarchien sind aber per se einfach und nicht komplex. Deshalb reiben sie sich zunehmend auf an der steigenden Komplexität der Umwelt.

Das ist natürlich keine binäre Situation. Geschäftsführung funktioniert nicht entweder gut oder gar nicht. Wenn Hierarchien nicht mehr passen, dann geht also nicht das Licht aus. Stattdessen nehmen Konflikte zu, der Druck wird stärker, die Stimmung sinkt, Spielräume werden gestrichen, die Bürokratie nimmt zu, aus der einstigen Vision wird ein Tunnelblick.

Natürlich soll nun Geschäftsführung nicht in beliebiger oder gar komplizierter Weise komplexer werden. Im Gegenteil! Ein wesentlicher Schritt zu angemessener Komplexität ist sogar ganz einfach. Er ist so einfach wie der Wechsel von einem einfachen Heizungsventil zu einem Heizungsthermostaten.

Geschäftsführung muss in ernsthafte und gleichberechtigte Rückkopplung mit dem operativen Geschäft treten. Geschäftsführung muss in einer Feedbackschleife stattfinden. Das ist nichts anderes als die Agilitätsbewegung für die Softwareentwicklung will. Kein BDUF (Big Design UpFront), sondern Iterationen. Keine autokratische Einbahnstraßenführung, sondern Führung nach Feedback und in Iterationen. Geschäftsführung muss also ganz fundamental vom bzw. durch das operative Geschäft lernen.

image

Natürlich gibt es auch heute schon gewisse Wege für Feedback an die Unternehmensführung. Berichte werden turnusmäßig produziert und Management Informationssysteme werden aufgesetzt. Im Vergleich zur nach unten zeigenden Führungsmacht ist die Macht des aufwärtsgerichteten Feedbacks jedoch gering und allemal nicht unbedingt zeitnah. Und es ist sehr formalisiert. Was nicht in den dünnen Feedback-Kanal passt, das hat kaum Chance auf Wahrnehmung in der Führung. Macht von oben und Feedback-Macht von unten sind heute also sehr asymmetrisch. Um das zu betonen, habe ich den Feedback-Kanal bis zum vorstehenden Bild gar nicht erst eingezeichnet.

Soziokratie stellt dem das gleichberechtigte und breite und nicht notwendig formale Feedback gegenüber. Soziokratische Führung ist insofern echt rekursiv gekoppelt mit dem operativen Geschäft. Beide durchlaufen eine Co-Evolution: soziokratische Führung wirkt auf die Operation ein, die Operation reagiert und wirkt zurück auf die soziokratische Führung, die wiederum reagiert und wirkt auf das operative Geschäft und so weiter und so fort immer im Kreis. Sie verformen sich gegenseitig. (Deshalb habe ich beiden in den folgenden Bildern auch keine konkrete Struktur gegeben. Die ist im Augenblick unerhelblich. Wesentlich ist nur, dass sie sich verändert, um sich immer wieder neuen Verhältnissen anzupassen.)

image

Das Bild zieht den Kreis in der Zeit auseinander. Denn durch die Entwicklung beider Seiten stehen sie quasi nicht auf der Stelle. Der Kreis ist eher eine Spirale. Und beide Unternehmensaspekte bewegen sich in einem dynamischen Gleichgewicht um einen Punkt der Optimalität in Bezug auf den Markt und das Ziel Nachhaltigkeit (d.h. Effizienz über lange Zeit).

Rekursive Organisation

Solche rekursive Kopplung mag neu innerhalb eines Unternehmens sein. Ansonsten gehört sie aber zur Natur von Unternehmen. Denn so stehen sie in Beziehung zur Umwelt, zum Markt. Sie wirken auf den Markt mit ihren Produkten ein, der Markt verändert sich dadurch, dann wirkt der Markt zurück aufs Unternehmen. Das Unternehmen als autopoietische System - d.h. eine sich selbst erhaltende Organisationsform - kann nicht anders.

Mit der Soziokratie findet diese Kopplung nun Eingang in das System. Eine Form des Austausches auf grober Granularitätsebene setzt sich fort innerhalb der Organisation auf feinerer Granularitätsebene. Innerhalb eines rekursiv gekoppelten Systems sind Systeme, die ebenfalls rekursiv gekoppelt sind. Rekursive Kopplung findet somit selbst wieder rekursiv statt. Soziokratische Unternehmen sind Unternehmen mit rekursiver Struktur.

image

Das wird noch deutlicher, wenn Sie innerhalb der blauen operativen Organisation einen Scrum-Prozess denken. In ihm sind auch Systeme rekursiv gekoppelt: Product Owner und Team.

Die rekursive Kopplung mit der Umwelt ist natürlich und alt. Früher war der Markt jedoch viel überschaubarer, stabiler. Innerhalb eines Unternehmens mussten deshalb nicht auch noch fundamentale Regelkreise aufgebaut werden. Es reichte aus, dass die Geschäftsführung ihre Wahrnehmungen unidirektional in Grundsätze und Organisationsstruktuen goss.

Das ist heute fundamental anders! Unternehmen sind heute mit einer sehr volatilen Umwelt gekoppelt, die auch noch viel mehr Signale sendet. Erfolg ist nicht mehr eine Sache von Planung am Reißbrett. Zwischen Erfolg heute und Erfolg morgen liegt keine recht klar absehbare Strecke. Der Weg führt vielmehr durch Nebel und ist voller Stolperfallen. Die Soziokratie schlägt deshalb vor, das Lernen innerhalb von Unternehmen zu institutionalisieren in Form der gezeigten fundamentalen Schleife. Dabei liefert das operative Geschäft ständig und auf vielen Kanälen Informationen an die Führung.

Die Frage ist dann nur, wie die soziokratische Geschäftsführung aussieht, damit sie dieses Feedback auch verarbeiten kann. Bisher habe ich ihr ja noch keine konkrete Struktur in den Bildern gegeben. Doch davon mehr im nächsten Posting.

Sonntag, 11. Januar 2009

Aspektorientierte Unternehmensführung mit Soziokratie [OOP 2009]

Bei www.clean-code-developer.de beschäftige ich mich gerade mit Grundprinzipien professioneller Softwareentwicklung. Vielleicht ist das der Grund, warum Soziokratie in mir eine Saite zum Schwingen gebracht hat. Sie sieht für mich nämlich ebenfalls wie ein Grundprinzip aus. Nicht für die Entwicklung von Software, sondern für die Entwicklung von Organisationen die Software herstellen.

In meinem vorhergehenden Posting habe ich erklärt, warum ich die Softwarebranche für prädestiniert halte, sich die Soziokratie einmal näher anzusehen. Wir sind schon vertraut mit zwei Kernkonzepten der Soziokratischen Kreismethode (SKM): Lernschleife und Rekursion. Und darüber hinaus sind wir prädestiniert zu verstehen, was die Einführung von Soziokratie mit einem Unternehmen macht. Sie führt zu einer Separation of Concerns. Soziokratie ist Unternehmungsführung aspektorientiert.

In unserer Branche kann ich das so einfach schreiben. Was genau ich damit meine, verstehen Sie wahrscheinlich noch nicht. Aber das macht nichts. Zumindest gewisse Bilder entstehen in Ihrem Kopf, weil diese Begriffe in der Softwarebranche etabliert sind. Und das ist, was es aus meiner Sicht einfacher macht, SKM in der Softwarebranche zu studieren oder gar einzuführen. Wir sind vorbereitet.

Schon im brand eins Artikel, der für mich Anlass zur Beschäftigung mit der SKM war, wird deutlich, dass Soziokratie bei allen Vorteilen und einer grundsätzlichen Einfachheit doch einen Nachteil hat: sie lässt sich irgendwie schwer erklären. So finden zumindest auch viele Soziokratieexperten. Und ich stimme durchaus zu. Eigentlich ist SKM simpel - doch beim Erklären hakt es immer wieder.

Warum ist das so? Da lese ich die Literatur zu SKM, die das Soziokratische Zentrum mit Übersetzungsmühe zur Verfügung gestellt hat; die Liste der Grundprinzipien ist kurz; die Bilder sind einfach; die Beispiele bemüht lebensnah. Und doch... etwas hakt. Das merke ich auch, wenn ich mit Isabell Dierkes, der Vertreterin des deutschen Soziokratischen Zentrums skype. Einerseits verstehe ich sie - und andererseits laufen wir auch immer wieder in Missverständnisse.

Warum ist das so? Ich glaube, zumindest eine Ursache gefunden zu haben. Die Soziokratie setzt ein gewisses Verständnis davon voraus, wie Unternehmen funktionieren. Unglücklicherweise ist dieses Verständnis jedoch viel weniger verbreitet als angenommen. Deshalb stelle ich Soziokratie in anderer Weise dar, als die "kanonischen Dokumente" es tun. Ich fange damit an, was die Soziokratie als selbstverständlich voraussetzt.

Führung ist orthogonal

Lassen Sie mich versuchen, den "Ort für Soziokratie" im Unternehmen mit einer kleinen Beispielfirma zu illustrieren: Ein kleines Softwareunternehmen - die SoftWunder GmbH - hat einen Geschäftsführer, ein Entwicklungsteam, Vertrieb und ein Sekretariat. Das Entwicklungsteam arbeitet schon mit im "softwaretechnischen Kreisprozess" Scrum.

Wenn uns der Geschäftsführer und Inhaber sein Unternehmen vorstellen wollte, würde er sicherlich in einer hübschen Powerpoint-Präsentation auch ein Organigramm wie das Folgende zeigen:

image

Es beschreibt die groben Verantwortungsbereiche im Unternehmen, sozusagen seine Komponenten. Wenn wir hineinzoomen, sehen wir die Rollen, die es mit Leben füllen.

image

So ähnlich könnte das Personal von SoftWunder heute organisiert sein. Die Belegschaft ist nicht groß, so dass die Hierarchie flach sein kann. Zum Beispiel braucht das Unternehmen keine Sekretariatsleitung und die Architektur entwirft das Entwicklungsteam gemeinsam.

Auf Details im Organigramm, die Sie vielleicht anders erwartet hätten, kommt es auch nicht an. Wichtig ist nicht, was im Organigramm fehlt, sondern was das Organigramm verbirgt! Es verbirgt oder kaschiert nämlich etwas, das eigentlich deutlich sichtbar sein müsste.

Das Organigramm macht denselben "Fehler", den dieser Code für Sie ganz offensichtlich macht:

KundenListe SucheKundenNachPLZ(string plz)
{
    logger.Write("Suche Kunden nach PLZ: {0}", plz);

    if (cache.ContainsForKey(plz))
        return cache[plz];

    KundenListe liste = new KundenListe();

    SqlConnection conn = new SqlConnection("...");
    ...

    return liste;
}

Wo liegt das Problem in diesem Code? Er vermischt unterschiedliche Aspekte! Logging, Caching und Datenbeschaffung sind unterschiedliche Aspekte der Lösung. Indem sie eine Methode vermischt, wird der Code schwer lesbar und weniger evolvierbar.

Separation of Concerns, Aspekte oder Belange klar voneinander zu trennen, ist daher ein Grundprinzip guter Softwareentwicklung. Die Aspektorientierte Programmierung (AOP) hat dafür Werkzeuge entwickelt wie zum Beispiel PostSharp. Damit ließe sich der Code klarer formulieren, z.B. so:

[Log("Suche Kunden nach PLZ {0}", "plz")]
[Cache("plz")]
KundenListe SucheKundenNachPLZ(string plz)
{
    KundenListe liste = new KundenListe();

    SqlConnection conn = new SqlConnection("...");
    ...

    return liste;
}

Jetzt steht in der Methode ihr eigentlicher Zweck im Vordergrund: die Beschaffung von Daten. Die Aspekte Caching und Logging sind an sie über Attribute "angeheftet", die von einem AOP-Framework zur Compilezeit oder Laufzeit so eingewoben werden, dass sie wie im ursprünglichen Code ihren Dienst tun.

Das konzeptionelle Verhältnis zwischen den Aspekten, ihre Orthogonalität, mittels AOP einen passenden Ausdruck gefunden. Sie springt uns jetzt ins Auge. Wir verstehen den Code leichter, wir können ihn einfacher erweitern, weil die logische Entkopplung des Aspekte nun auch ihre Entsprechung in der Form hat.

image

Jetzt zurück zu SoftWunder:  Was bedeutet das nun aber für das Organigramm?

Wie gesagt, das Organigramm vermischt genauso wie der ursprüngliche Codeentwurf. Es vermischt ganz unterschiedliche Aspekte eines Unternehmens. Das typische Ogranigramm vermischt operatives Geschäft und Führung dieses Geschäfts. Es trennt nicht deutlich zwischen dem Tagesgeschäft und Management. Es trennt nicht zwischen der Organisation und den Prozessen, die produzieren und verkaufen und einfach den Laden schmeißen - und der Entwicklung all dessen.

Geschäftsführer Friedrich (oder in größeren Unternehmen der Vorstand und das mittlere Management) hat eine fundamental andere Aufgabe als Entwicklerin Rita oder Außendienstler Rolf. Friedrich denkt über das Unternehmen nach, er trifft Grundsatzentscheidungen, er definiert Geschäftsfelder und Grundsätze der Arbeit, er bestimmt das Organigramm. Rita und Rolf hingegen führen nur aus. Sie sind zwar auch verantwortlich in ihren Rollen, aber diese Verantwortlichkeit bezieht sich auf Prozesse des Tagesgeschäftes. Sie arbeiten im Konkreten, Friedrich arbeitet sozusagen auf der Metaebene.

Diese fundamental unterschiedlichen Rollen - Arbeiten im Konkreten und Arbeiten auf der Metaebene, Arbeiten in der Organisation vs Organisationsentwicklung - mache ich mal mit Farben im Organigramm deutlich. Dann sehen Sie die Aspekte schon etwas besser:

image

Geschäftsführer Friedrich sowie Entwickler, Außendienstler und Sekretariat haben klar getrennte Verantwortungen. Sie gehören eindeutig unterschiedlichen Aspekten an. Scrum Master und Vertriebsleiter jedoch sitzen quasi zwischen den Stühlen. Einerseits sind sie im Tagesgeschäft involviert, andererseits sind sie auch angehalten, darüber hinaus zu denken. Von ihnen erwartet der Geschäftsführer Weitblick und auch (moderate) Eingriffe in die unter ihnen "hängenden" Organisationsteile.

Hört sich alles selbstverständlich an, oder? So ist das halt mit Unternehmen. Oder allgemein: So ist das halt mit organisierten sozialen Systemen. Früher oder später, gewollt oder nicht nehmen sie eine hierarchische Form an. Das ist nicht nur in Unternehmen so. Auch Vereine oder die Politik sind so organisiert. Bestrebungen um flache Hierarchien ändern daran nichts.

Und all diesen Organisationen ist gemein, dass sie in ihren Selbstdarstellungen die Aspekte Operation und Reflektion nicht klar trennen. Das tun sie nicht, weil sie es selbst nicht anders denken. In ihrem Denken verschwimmen die Aspekte, weil die Aspekte mit den zugehörigen Rollen in Personen immer wieder notwendig zusammenfließen. Operieren und Reflektieren geschieht gerade in kleinen Unternehmen zwangsläufig oft in Personalunion.

An diesem Faktum ist auch nichts auszusetzen. Damit aber das Selbstbild, das Denken kontamieren zu lassen, das ist kontraproduktiv! Professionelle Softwareentwicklung braucht klare Prinzipien. Professionelle Unternehmenungen brauchen klare Prinzipien. Wenn drüben Separation of Concerns eine Tugend ist, warum dann also nicht auch hüben?

Größere Organisationen sind da klarer. Der Begriff Management bezeichnet eigentlich den Aspekt Organisationsentwicklung/Reflektion. Im Organigramm sind dann einige Hierarchieebenen rein blau - wenn denn das Organigramm überhaupt farbkodiert wäre. Ist es aber auch in diesen Organisationen nicht. Vielleicht ist es da nicht verwunderlich, dass "die Management-Kaste" in den letzten Jahren sich ins Kreuzfeuer manövriert hat. Vielleicht hat die Krise der Mangements damit zu tun, dass das Denken in den Organisationen nicht so klar ist, wie es sein sollte? Nun, darüber zu sinnen, überlasse ich Ihnen bei einem Bier... ;-)

Hier möchte ich das Organisationsbild im Sinne der Aspektorientierung verbessern. Ich wende einfach mal die Darstellung der Software auf die SoftWunder GmbH an:

image

Führung ist orthogonal zum Tagesgeschäft. Führung kümmert sich um die Organisation, nicht um die Erledigung eines Auftrages. Sie ist insofern nicht funktional! Führung ist kein Feature der Dienstleistungen eines Unternehmens.

Wenn Sie bei einem Pizza Bringdienst nicht nur à la cart bestellen, sondern auch eigene Pizzavariationen kreieren können, dann ist das ein Feature des Pizza Bringdienstes. Er erfüllt damit einen funktionalen Wunsch der Kundschaft. Wenn die "custom Pizza" auch noch superschnell kommt, dann ist das eine nicht funktionale Eigenschaft des Bringdienstes. Denn auch wenn sie 2 Stunden warten müssten, wäre Ihr funktionaler Wunsch nach einer "custom Pizza" immer noch erfüllt.

Aber woher kommt die hohe Geschwindigkeit? Sie ist resultat guter Unternehmensführung. Denn sie ist es, die die Organisation des Tagesgeschäftes definiert, die Prozesse bestimmt, die Mitarbeiter motiviert, so dass am Ende alle und alles reibungslos läuft.

Führung ist insofern sogar in doppelter Hinsicht nicht funktional: zum Einen ist sie selbst kein Feature des Unternehmens, zum anderen wirkt sie maßgeblich auf die nicht funktionalen Eigenschaften der Dienstleistungsfeatures des Unternehmens ein.

Ich denke, das ist ein weiterer Grund, warum Führung verdient, viel expliziter dargestellt zu werden. SoftWunder täte sich einen Gefallen, wenn es sein Organigramm wie folgt zeichnen würde:

image

Dem Betrachter wäre sofort klar, wer in die Entscheidungen über das Unternehmen eingebunden wäre. Der Betrachter wüsste sofort, dass überhaupt Reflektion stattfindet, da dieser Aspekt erkannt und explizit dargestellt wurde.

Soziokratie will explizite Führung

So, nach diesem Ausflug ins Grundsätzliche wieder zurück zur Soziokratie. Wenn ich jetzt sage, dass Soziokratie aspektorientierte Unternehmensführung ist, dann verstehen Sie was ich meine. Soziokratie ist eine Methode der Unternehmensführung. Und Soziokratie führt explizit, d.h. durch Ablösung des Aspekts "Führung" vom operativen Geschäft.

image 

Die soziokratische Führung habe ich in diesem Bild in der kanonischen Form dargestellt. Die SKM spricht von einer "Kreisorganisation" der Führung, zeichnet aber Dreiecke. Wenn Sie das merkwürdig finden, dann sind Sie nicht allein ;-) Auch darin sehe ich ein Problem der Soziokratie, sich verständlich zu machen; sie ist mehr oder weniger subtil inkongruent in ihren Aussagen. Ich werde im Weiteren daher die Dreiecke nicht verwenden, selbst wenn ich mich damit gegen "die Weisen aus dem Holland" stelle ;-) (Die Geburtsstätte der Soziokratie ist in den Niederlanden, wo auch das soziokratische Hauptzentrum seinen Sitz hat.)

Das wesentliche Problem der Soziokratie sehe ich vielmehr - da bin ich mir nun ganz sicher - darin, dass sie nicht die Orthogonalität von Führung klar macht. Interessenten haben deshalb immer wieder das grundsätzliche Verständnisproblem, wo denn Soziokratie im Unternehmen zu verorten sei.

Darstellungen wie diese aus "Die Soziokratische Kreisorganisationsmethode" machen es da auch nicht besser:

image

Indem sie die soziokratische Kreishierarchie in ein bestehendes Organigramm einblendet, will SKM zwar einen wichtigen Punkt rüberbringen - steigert aber letztlich die Verwirrung. Denn so oktroiert SKM einer bestehenden Führung, die ja schon und noch im Organigramm steckt, eine weitere Führung auf. Das will sie natürlich nicht, sie tut es aber doch. Das ist tragisch.

Die aspektorientierte Darstellung vermeidet diese Verwirrung, indem sie zuerst und ganz allgemein Führung orthogonal zum operativen Geschäft zeigt - und dann (!) die traditionelle Führung durch die soziokratische ersetzt.

Führung in dieser Weise orthogonal zu denken und zu zeigen hat zwei Vorteile für die Soziokratie:

  1. Es wird ganz klar, was Soziokratie will: führen, nicht operieren. Soziokratie hat den Anspruch, die bisherige Führungsorganisation durch etwas Neues zu ersetzen. Was das ist und wie das funktioniert werde ich in zukünftigen Postings beschreiben.
  2. Es wird ganz klar, dass eine Organisation Soziokratie einführen kann, ohne zwangsläufig an der operativen (!) Organisation etwas zu verändern. Das senkt die Einstiegshürde. Denn woimmer innerhalb eines Organigramms Operation und Reflektion vermischt sind, können sie im ersten Schritt entkoppelt werden, um dann im zweiten Schritt die "herauspreparierte" Führung durch Soziokratie zu ersetzen.

Soziokratie ist also eine Führungsmethode, die auf Organisationen oder Teilorganisationen quasi beliebiger Größe angewandt werden kann. Bei SoftWunder könnte zum Beispiel nur der Vertrieb zukünftig soziokratisch geführt werden (soweit das unterhalb einer traditionellen Geschäftsführung möglich ist). Ist das erfolgreich, kann Soziokratie horizontal in anderen Abteilungen eingeführt werden oder eben auch vertikal, d.h. als Ersatz der kompletten bisherigen Führung. Soziokratische Führung kann in einem traditionellen Organisationsbaum von unten nach oben oder von oben nach unten "wachsen". Sie ist somit rekursiv. Ihre Bilder selbstähnlich.

Verstehen Sie jetzt, warum ich glaube, dass Soziokratie es in der Softwarebranche einfachener haben kann als in anderen? Aspekte, Orthogonalität, Separation of Concerns, Rekursion: das sind Begriffe, mit denen Sie täglich umgehen. Wir verstehen sie. Und ohne sie halte ich Soziokratie für viel schwieriger als notwendig verständlich.

Es ist also kein Wunder, wenn die Soziokratie-Proponenten bisher Schwierigkeiten mit ihrer Frohbotschaft hatten. Handwerksunternehmen oder einem Handelshaus Soziokratie SKM zu erklären, ohne solche begriffliche und darstellerische Schärfe, kann nur zu Missverständnissen führen.

Aber vielleicht nützen ja diese Gedanken hier, um das Konzept allgemein einfacher erklärbar zu machen und seine Verbreitung zu fördern. Ich glaube, dass SKM ein guter Schritt voran zu nachhaltiger Unternehmensführung ist.

Ausblick

Da nun die Positionierung der SKM klar ist, konzentriere ich mich beim nächsten Soziokratie-Posting auf die Wechselwirkung von SKM-Führung mit dem operativen Geschäft und der Organisation der soziokratischen "Kreis-Dreicke".

Freitag, 9. Januar 2009

Agile Führung - Mit Soziokratie über agile Softwareentwicklung hinausgehen [OOP 2009]

Agile Softwareentwicklung ist die Antwort auf eine unvorhersehbare Umwelt. Wer ein Produkt herstellen will, dessen Anforderungen nur unvollständig bekannt sind und sich auch noch häufig ändern, der muss einfach anders vorgehen als jemand, der etwas klar Umrissenes und Stabiles produzieren soll.

Agile Vorgehensmodelle als optimale Lösungen

Im Kern der agilen Vorgehensmodelle steht deshalb "das lernende Team":

  • Agile Teams bemühen sich um Nähe zum Kunden. Sie suchen sein unmittelbares und häufiges Feedback zu ihrem Produkt, der Software.
  • Agile Teams setzen Feedback möglichst zügig und auf den Punkt um. Änderungen und Neuerungen werden unter ständiger Qualitätskontrolle implementiert.
  • Agile Teams liefern in kurzen Abständen und verlässlich immer wieder an den Kunden. Sie setzen ihr Produkt seiner Prüfung aus.

image Das "lernende Team" dreht sich also in einer nimmer endenden Schleife von Feedback - Implementation - Release. Oder allgemeiner ausgedrückt: Das "lernende Team" beobachtet seine Umwelt, es misst sie. Dann reflektiert es über diese Wahrnehmungen und passt sich bzw. sein "Modell der Umwelt" intern an. Schließlich handelt es wieder  in der Umwelt und überprüft damit die Stimmigkeit seines "Modells".

Lernen findet dabei insbesondere statt, wenn die Wahrnehmung nicht der Erwartung entspricht. Fehler sind die wahren Informationsquellen für "lernende Teams". Sie sind die "Unterschiede, die einen Unterschied machen" (Gregory Bateson).

Scrum ist hier für mich das minimalistische Vorgehensmodell in diesem Sinn. Die Lernschleife ist darin institutionalisiert. Alles dreht sich in Scrum im wahrsten Sinne des Wortes darum, das Richtige zu tun (die am höchsten priorisierten Backlog-Items implementieren), bald das Arbeitsergebnis in die Welt zu entlassen (am Ende eines kurzen Sprints) und dann Feedback über die Qualität der Arbeit einzuholen (über neue Backlog-Items).

Die zunehmende Verbreitung von Scrum gibt diesem Vorgehensmodell Recht. Es definiert mit seinen Rollen und Prinzipien eine Organisation und einen Prozess zur Bewältigung des Problems "Produktentwicklung in unvorhersehbarer Umwelt". Agile Vorgehensmodelle scheinen nach 60 Jahren Softwareentwicklung die optimale Lösung für diese konkrete Situation.

Optimale Lösungen gibt es nicht!

Für das konkrete Problem "Softwareentwicklung" ist Agilität im Allgemeinen oder Scrum im Speziellen die optimale Lösung. Zumindest im Augenblick.

Wie lange können wir aber sicher sein, dass das so ist? Wie können wir Lücken oder Unvollkommenheiten in der Anwendung eines Vorgehensmodell entdecken und korrigieren? Kann es überhaupt optimale Lösungen geben, also solche, die eben immer optimal sind? Kaum. Alle Vorschläge für ein Vorgehen bei der Softwareentwicklung sind eben nur Vorschläge. Sie definieren Ausgangspunkte für die eigene Suche nach der für die eigene Situation besten Lösung.

Und auch diese eigene Lösung ist nicht dauerhaft optimal. Optimal in einem statischen Sinn, ist nichts. Alle Vorgehensmodelle bzw. ihre Implementationen im eigenen Team sind nur vorläufig. Denn nicht nur Kundenanforderungen ändern sich ständig, sondern auch die allgemeine Situation, in der entwickelt wird. Veränderungen in der Teamgröße, neue Technologien oder Firmenfusionen können nahelegen, am aktuellen Vorgehen etwas zu ändern.

image So ist es nicht nur in der Softwareentwicklung. Die Organisation eines Unternehmens insgesamt und seiner Prozesse sind ganz allgemein gesprochen nie optimal. Sie hinken immer irgendwie der Realität hinterher. Finanzkrise, Veränderungen der Wettbewerbssituation oder des Käuferverhaltens, neue Materialien und Technologien... all das und viel mehr kann ständig eine Veränderung der Unternehmensorganisation nahelegen. Es könnte nötig sein, mehr Menschen zu beschäftigen oder weniger. Es könnte nötig sein, mehr Marketing oder weniger zu betreiben. Oder vielleicht sollten Abteilungen zusammengelegt oder getrennt werden? Wie ist es mit der Entwicklung neuer Produkte? Oder lieber das Produktportfolio verkleinern? Expandieren? Fusionieren?

Ständig lautet die allgemeine Frage in einem Unternehmen: Wie sieht die beste Organisation, wie sehen die optimalen Prozesse aus?

Die Frage von Scrum ist allerdings: Wie sieht die optimale Organisation des Produktes aus und was sollte als nächstes getan werden, um maximalen Kundennutzen zu stiften? Die Organisation des Teams hingegen ist fix. Sie wird ja durch Scrum vorgegeben.

Auf einer allgemeinen Ebene ist genau das aber anders. Bei gegebenem Unternehmenszweck - Gewinnerzielung mit bestimmten Produkten - ist die geeignete Organisation der Mitarbeiter in Bezug auf diesen Zweck nicht fix. Sie gilt es vielmehr immer wieder neu zu finden.

Lernende Organisationen

image Mit Scrum lernt ein Team, für den Kunden passende Software zu produzieren.

Wie lernt aber ein Unternehmen, die passende Organisation zur Herstellung seiner Produkte aufzubauen? Liegt die auf der Hand? Es scheint so, denn wer wüsste nicht, dass ein Unternehmen Buchhaltung, Produktion, Lager, Vertrieb, Marketing, Management, Sekretariat usw. braucht?

Das ist natürlich nicht falsch. Je nach Branche braucht ein Unternehmen diese grundsätzlichen Verantwortungsbereiche im Sinne einer Arbeitsteilung. Trotzdem ist damit nicht viel über die Organisation eines Unternehmens gesagt. Der Teufel steckt im Detail! Denn nicht dass (!) es Lager, Vertrieb, Produktion usw. gibt ist problematisch, sondern wie diese Verantwortungsbereiche miteinander kommunizieren und wiederum intern organisiert sind. Arbeiten sie direkt und reibungslos zusammen? Oder ist das Verhältnis eher kühl und bürokratisch? Gibt es lange Dienstwege, die einzuhalten sind? Findet man nur schwer Verantwortliche im Falle von Kundenbeschwerden?

Im Detail ist es eben nicht leicht, für einen Unternehmenszweck die am besten passende Organisation mit optimalen Prozessen zu finden. Und je größer das Unternehmen, je komplizierter die Produkte, je volatiler der Markt, desto schwieriger wird es.

Das ultimative Ziel jedes Unternehmens ist es nun, nachhaltig zu agieren. Es will möglichst lange leben und Gewinne einfahren. Dazu muss es effizient sein, denn nur dann stimmt die Marge. Dazu muss es aber auch flexibel sein, denn nur dann kann es unter wechselnden Anforderungen effizient produzieren.

Solche Nachhaltigkeit setzt gut passende Organisation voraus. Ein nachhaltiges Unternehmen muss daher daran interessiert sein, seine Organisation und seine Prozesse immer nah am Optimum zu haben. Genauso wie ein Scrum Team ein Interesse daran hat, seine Software nahe am Optimum der Kundenzufriedenheit zu haben. Wie kann ein Unternehmen das schaffen?

image Das Zauberwort heißt auch hier: Lernen. Das Unternehmen muss ein lernendes Unternehmen werden. Peter Senge hat dazu schon vor Jahren ein wegweisendes Buch geschrieben: "Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation" - leider bleibt es jedoch einige Antworten zur Umsetzung des Lernens schuldig.

Aber vielleicht gibt es einen ähnlich minimalistischen Ansatz für das Unternehmenslernen wie Scrum es für die Softwareentwicklung ist. Denn wo gelernt werden soll, da ist vor allem eines wichtig: die Lernschleife. Wahrnehmen, verarbeiten, handeln, wahrnehmen, verarbeiten, handeln usw. usf. nimmermüde.

Soziokratie als Organisationsevolutionsmethode

Scrum hat für mich viel Appeal in seiner grundsätzlichen Simplizität. Es verkörpert für mich die Essenz lernender Produktion. Allerdings findet das Lernen hier vor allem auf der konkreten Ebene, der Produktebene statt. In Lernschleifen soll das Produkt dem Kundenwunsch angenähert werden.

Für Unternehmen liegt das Problem hingegen im Allgemeinen und auf der Meta-Ebene. Sie sind nicht nur daran interessiert, dass ihre Teile (z.B. ein Team) lernen, sondern sie müssen als Ganzes lernen. Sie müssen lernen, aus welchen Teilen sie z.B. überhaupt bestehen sollten.

Das findet heute meist aber nur relativ dumpf oder vereinzelt statt. Eine Methode, um ein Unternehmen systematisch lernend zu gestalten, wird nicht gelehrt, wie es scheint. Wenn also Scrum in einem Softwareunternehmen zum Einsatz kommt, dann arbeitet zwar ein Team lernend - doch die Organisation drumherum ist deshalb noch lange nicht lernend aufgestellt. (Ja, auch wenn diese Organisation sich irgendwann verändert hat, indem sie Scrum einführte. Nicht systematisch lernende Organisationen leisten auch Gutes. Aber das könnte ja noch mehr werden, oder? Und in anderen Unternehmen könnte die Entwicklung zu mehr Organisationsqualität und damit Nachhaltig überhaupt ersteinmal beginnen.)

image Neulich habe ich nun einen sehr interessanten Artikel (ab Ende Jan 09 im Volltext online) in der brand eins gelesen. Dort wurde eine Methode beschrieben, die mir so minimal wie Scrum erscheint, aber eben genau das Lernen in Unternehmen systematisch erzeugt, von dem schon Peter Senge geschrieben hat. Diese Methode schien mir einerseits im Geiste von Scrum, andererseits aber dazu komplementär. Scrum ist eine Methode mit einer definierten Organisation für das operative Geschäft. Doch die in der brand eins beschriebene Methode zielt auf die Entwicklung eben solcher Organisation ab.

Die Soziokratische Kreismethode (SKM oder auch kurz Soziokratie) ist insofern eine Methode zur Unternehmensführung. Und zwar eine Unternehmensführung, die bewusst lernend stattfindet, d.h. in deren Kern eine Lernschleife aus Messen, "Leiten" und Durchführen steht.

Das hat mich sehr beeindruckt. Vor allem, weil es nicht nur eine Theorie ist, sondern in der Praxis angewandt wird. In Holland können sich Unternehmen unter soziokratischer Führung sogar von der Pflicht zum Betriebsrat befreien lassen. Soziokratie ist dort also schon länger wohlwollend sogar auf dem Radar des Gesetzgebers.

Ansonsten gibt es mehrere soziokratische Zentren, die über die Methode informieren. Das deutsche ist unter www.soziokratie.org zu erreichen. Dort gibt es auch einiges zum Thema zu lesen. Aber ich werde versuchen, das Wesentliche der SKM in einigen Blog-Artikeln hier herauszudestillieren. Ich denke, das lohnt sich, denn wie die aktuelle Finanzkrise zeigt, findet nicht nur Softwareentwicklung in einer unvorhersehbaren Umwelt statt. Die Umwelt für jedes Unternehmen ist heute so unvorhersehbar, dass es angezeigt scheint, nun endlich mit der "lernenden Organisation" Ernst zu machen. Und wenn die SKM hält, was sie verspricht, dann hat sie das Zeug dazu, für Unternehmen als Ganzes das zu werden, was Scrum für die Softwareentwicklung als Teil solchen Ganzen ist. Es geht also um nicht weniger als eine Methode der agilen Führung von Unternehmen.