Kohäsiv ist, was zusammenhält. In der Softwareentwicklung
ist es eine Tugend, das Kohäsive zu identifizieren und ihm durch ein Modul auf
angemessenem Level eine Form zu geben. Module sind Container für das, was zusammengehört.
Zum Zwecke der Wandelbarkeit.
Was in einem Modul zusammengefasst ist, kann sich weniger
gestört durch die Umwelt weiterentwickeln. Das Modul zieht eine Grenze, einen
Schutzwall.
Umgekehrt schützt das Modul die Umwelt vor den Entwicklungen
in ihm. Jedenfalls wenn die Modulgrenze angemessen ausgelegt ist.
Hohe Kohäsion, lose Kopplung: das ist einer der zentralen
Sätze für zukunftsfähige Softwarearchitektur.
Aber was ist kohäsiv? Und ist das, was heute zusammenhängt,
morgen auch noch zusammenhängend? In „Sweet
Aspects“ habe ich versucht, die Relativität und Volatilität von Kohäsion
anschaulich darzustellen.
Es ist also nicht die Frage, ob es in einer Menge von
Elementen Kohäsion gibt, sondern welche. Wird erkannt, was kohäsiv ist? Und
wird dem Rechnung getragen.
So ist das bei Software. Aber so ist das auch bei Menschen.
Menschen gehören zueinander. Anders als bei Softwareartefakten, wählen wir selbst
jedoch die, die uns nahestehen. Wir modularisieren uns sozusagen autonom.
Familie, Sportmannschaft, Verein, Unternehmen, Glaubensgemeinschaft, Nation...
Das sind unsere ideellen Container. Die grenzen wir von anderen ab. Dafür
suchen wir uns sogar physische Entsprechungen, vom Gebäude bis zum Territorium.
Und umgekehrt: Was „auf einem Haufen“ versammelt ist, hat
besser hohe Kohäsion. Sonst kommt es zu Unverständnis und Spannungen. Sonst
entsteht keine Gemeinschaft. Kräfte werden dann unproduktiv in Konflikten
verschwendet, statt sie auf die Erreichung gemeinschaftlicher Ziele anzuwenden.
Und am Ende zerfällt der nicht kohäsive Haufen in kleinere mit höherer
Kohäsion.
Das ist nur natürlich. Manchmal funktioniert es besser,
manchmal nicht so gut. So ist das menschliche Gemeinschaftsgefüge auch immer in
Bewegung. Derzeit wieder ganz gehörig.
Die Zusammensetzung der Mitglieder in unserem hübschen
Staatscontainer „Deutschland“ ändert sich gerade gewaltig. Wir haben mal geglaubt,
die Zuwanderung von Gastarbeitern sei ein Problem, das zu Überfremdung führt. Doch
das ist schon länger kein Thema mehr. Gastarbeiter sind keine Gastarbeiter
mehr, sondern Dauerarbeiter geworden. Sie gehören zu Deutschland wie der
deutsche Wald. Knapp 20% der Bevölkerung Deutschlands haben erwähnenswerten Migrationshintergrund.
10% sind sogar immer noch Ausländer. Das ist normal. Das ist gut so.
Die, die zunächst keine hohe Kohäsion hatten – Deutsche und
Spanier, Griechen, Italiener, Türken, Chinesen und wer noch alles zugezogen
sein mag –, haben sich zusammengerauft. Das nennt man erfolgreiche Integration.
Wir haben uns auf einander zu bewegt.
Dass nicht alles eitel Sonnenschein ist, ist klar. Das war
es im „ursprünglichen Deutschland“ aber auch nicht. Vor historisch gesehen kurzer
Zeit haben allein wir Deutschen uns selbst und der Welt ja noch so einige
Probleme bereitet.
Integration hat funktioniert. Über 20, 30, 40, 50 Jahre sind
Millionen von Ausländern zu Inländern geworden. Eine großartige Leistung!
Vor allem aber auch eine nötige Leistung, denn sonst wäre
der deutsche Staatscontainer auseinandergebrochen. Er hätte sich quasi selbst
refaktorisiert. Extract nation hätte
die Operation wohl geheißen. So wie 1990 die Operation Inline nation ausgeführt wurde: Die DDR ist der BRD beigetreten.
Exportweltmeister sind wir ja schon. Vielleicht sollten wir
uns also auch Integrationsweltmeister nennen? 20 Millionen Ausländer, 20
Millionen DDR-Bürger: alles integriert – und immer noch ein Land, in dem wohl
die meisten gerne leben. Ist das nicht eine großartige Leistung?
Andere finden das Ergebnis jedenfalls sehr attraktiv. So
attraktiv, dass sie ebenfalls nach Deutschland kommen wollen. Sei es aus
wirtschaftlichen Gründen oder weil sie schlicht Schutz für Leib und Leben suchen.
Ihr Bild von Deutschland: hier gibt es Geld und/oder Sicherheit.
Können wir nicht stolz darauf sein, so ein Bild zu
vermitteln? Trotz oder vielleicht sogar wegen all der Integrationsleistung, die
in Deutschland vollbracht wurde, sind wir so etwas wie das gelobte Land
geworden.
Dieses Bild ist sicher eine Überhöhung. Wir können ihm nicht
einfach so gerecht werden. Milch und Honig fließen hier nicht. Doch woanders
fließen mehr Tränen und vor allem Blut. Selbst wenn wir nur Milchpulver und
Zuckerrübensirup zu bieten hätten, wäre das für viele eine deutliche
Verbesserung.
Aber wollen wir das? Über diese Frage lässt sich lange
diskutieren. Letztlich ist sie jedoch müßig. Die kanzlerische
Alternativlosigkeit findet hier nämlich eine berechtigte Anwendung. Wir können
nicht anders, als Menschen, viele Menschen an- und aufnehmen zu müssen. Sie
sind schlichtweg da. Nicht nur vor der Tür, sondern schon im Flur oder gar im
Wohnzimmer. Wer fragt „Wolle ma se reinlasse?“ kann das nur rhetorisch meinen.
Zwar hatten wir schon länger keine explizite Einladung mehr
ausgesprochen – Deutschland ist kein Einwanderungsland, das aktiv um Zugüge im
Ausland wirbt –, d.h. die, die nun schon da sind, sind keine geladenen Gäste.
Deshalb ist die Frage selbstverständlich erlaubt, wen wir diesseits der Haustür
wirklich bewirten wollen. Und die Antwort wird nicht für alle, die schon drin
sind, positiv ausfallen.
Doch egal, wie das Gastkriterium auch formuliert ist oder
werden mag, es werden viele bleiben. Und wohl vor allem schneller mehr, als in
bisherigen Jahrzehnten. Das ist so. Das ist auf die eine oder andere Weise eine
schlicht historische Konsequenz. Ich möchte hier sogar von Karma sprechen.
Deutschland und vor allem Europa erleben eine Bewegung, die
vor Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten angestoßen wurde. Von wem? Irgendwie
wäre das schon wichtig zu eruieren, wenn man versuchen möchte, näher an der
Wurzel etwas zu verändern. Andererseits führt diese Frage auch schnell in ein
unendliches Fingerzeigen, das bei Obama/Bush beginnen mag und selbst bei Papst
Urban II nicht enden würde.
Im Menschlichen herrscht, wie in der Physik, das Prinzip
Actio und Reactio. Wer Gewalt benutzt, wird Gegengewalt erzeugen. Früher oder
später. Der Abgrund ruft den Abgrund.
Aber einerlei. Es ist wie es ist. Die Tür ist auf, viele,
viele Gäste strömen herein. Quasi Facebook-Party auf nationalem Niveau.
Die Frage der Stunde lautet: Was tun? Und die allererste,
alternativlose Antwort ist: Integration. Jetzt! Sofort! So schnell wie möglich.
Zwei Phasen müssen wie bei jede Katastrophe schnellstmöglich
durchlaufen werden:
1. Triage
2. Hilfe
Ursachenanalyse usw. muss auch geschehen. Parallel. Vor Ort
kann es jedoch keine zwei Meinungen geben. Da sind die Ressourcen knapp und
sollen bestmöglich eingesetzt werden.
Wenn es so sein kann, dass nicht alle die, die Deutschland
so attraktiv finden, auch willkommen sind, dann muss das Kriterium dafür
schnellstmöglich angewandt werden. Jeder Tag, den seine Anwendung später
erfolgt, kostet Ressourcen, die der echten Hilfe nicht zur Verfügung stehen.
Das ist Verschwendung pur. Jeder Tag Verzögerung lässt auch den Widerstand in
der Bevölkerung wachsen, weil Unentschiedenheit als Führungslosigkeit gedeutet
wird und Unsicherheit schürt.
Triage ist eine harte Sache. Immer. Sie wiederspricht dem
Reflex des Altruismus. Aber es hilft im wahrsten Sinne des Wortes nichts: Wo
Ressourcen knapp sind, müssen sie hier zugewiesen und woanders entzogen werden.
Über die Kriterien kann man ja, nein, muss man diskutieren.
Aber nicht darüber, ob es Kriterien geben sollte. Und wenn man sich festgelegt
hat, dann muss man sie anwenden. Zügig. Und dann muss man beobachten, ob man
mit dem Ergebnis zufrieden ist. Und man muss akzeptieren, dass es zu Fehlern
kommt. Es wird zu false positive und
zu false negative Bewertungen kommen.
Je größer der Ansturm der Gastkandidaten, desto eher
brauchen wir quasi Judge Dredd vor Ort für eine Triage. Das ist bei jeder
Katastrophe so. Und die liegt vor.
Nach der Triage schnellstmögliche Hilfe. Das bedeutet in
diesem Fall: Integration der Gäste. Rigoros. Alternativlos.
Denn wie lange die Gäste bleiben, ist ja unbekannt. Und
angesichts des Weltenlaufs in den letzten Jahrzehnten sollten wir uns wohl eher
auf länger denn kürzer einstellen. Aber selbst wenn sie nach 2-3 Jahren wieder
heimreisen sollten, würden sie und wir von einer schnellen Integration
profitieren. Sie nähmen in ihre Heimat nämlich ein bestätigtes gutes Bild von
Deutschland mit. Deutschland wäre das Land, in dem sie so willkommen geheißen
wurden, dass man sie sogar integriert hat.
Integration bedeutet natürlich vor allem Angleichung der
Gäste an den Gastgeber Deutschland. Das ist für Deutsche selbstverständlich;
Gäste mögen da eher zögerlich bis unwillig sein. Sie wollten doch „nur“ Geld
und/oder Schutz. Aber es hilft nichts. „Nur“ gibt es nicht in dieser
Größenordnung. Geschenke kann es geben im Leben – doch wie spätestens die
vielen Gratisangebote im Internet auch dem letzten klar gemacht haben sollten:
am Ende ist doch nichts umsonst. Und der Preis für den Empfang der Segnungen
Deutschlands ist... Integrationswille. Jeder Gast ist aufgefordert, nach
Kräften mitzumachen.
Doch die Integration ist keine Einbahnstraße. Es ist nicht
zu vermeiden, dass auch die deutsche Gesellschaft sich den „Neuzugängen“
annähert. Es ist immer eine Co-Evolution. Anderes anzunehmen wäre naiv. Wir
sehen es ja jeden Tag auf der Straße.
Wenn man das zulässt, dann ist das auch angenehm. Wer möchte
auf die kulturelle Vielfalt in Deutschland denn wirklich verzichten? Nicht nur
will ich in Hamburg einen Schwarzwälder Schinken genießen, ich möchte auch zum
türkischen Friseur oder libanesischen Restaurant oder einem Diskussionskreis in
der Moschee gehen können.
Also Integration. Aber wie?
Beim Couchsurfing im fernen Land sich nur mit Händen und
Füßen verständigen, mag für ein paar Tage witzig sein. Da lernt man etwas fürs
Leben.
Wenn Flüchtlinge und andere „Deutschlandfans“ jedoch nach der
Triage hier bleiben dürfen, dann ist es nicht witzig, wenn sie uns und wir sie
nicht verstehen. Das behindert vielmehr die so wichtige Integration. Kein
gesellschaftlicher Anschluss, keine Job ohne gute Sprachkenntnisse.
Wir brauchen Kohäsion und die beginnt bei der Sprache. Sie
ist die Bedingung für die Möglichkeit jedes anderen Kontaktes und damit
weiterer Annäherung.
Ohne gemeinsame Sprache ist der Grundstein gelegt für den
Verbleib im physischen und geistigen Ghetto. Ohne unsere Sprache können Gäste
sich nicht zurechtfinden und auch nicht wirklich die Segnungen unserer
Gesellschaft schätzen lernen. Vieles muss ihnen kryptisch erscheinen und
bleiben. Und umgekehrt: Uns muss vieles als fremd und damit potenziell
bedrohlich erscheinen.
Aber sofortige Sprachvermittlung von spätestens Tag 1 nach
der Triage an ist nur der Anfang. Wie gesagt: die Bedingung für alle anderen
Möglichkeiten.
Der nächste Schritt der Integration muss Bildung sein, die
dazu führt, dass Gäste zu unserer Gastgebergesellschaft beitragen können.
Sicherlich gilt das in gleichem, nein, eigentlich sogar
größerem Maß zunächst für schon deutsche Bürger. Da mangelt es im Grunde auch
an Integration in diesem Sinn. Aber das ist ein anderes Thema. Mir geht es hier
um das akute Problem der vielen Einströmenden.
Ja, ich denke, Bildung sofort tut Not. Bildung in Bezug auf
unsere Kultur und gesellschaftliche Organisation. Aber auch Bildung im Hinblick
auf einen möglichen Beitrag zu dem, was unsere Attraktivität ausmacht und
überhaupt ermöglicht, dass wir fähig sind, Gäste aufzunehmen.
Wer kurz zu Besuch kommt, wird bedient. Das ist Ehrensache.
Wer aber kommt, um unabsehbar zu bleiben... der wird vom ersten Tag an in
unseren Alltag eingebunden. Das weiß jeder, der schonmal in einer WG gewohnt
hat.
Aufgabe der Integration ist mithin, die Beitragsfähigkeit
alle anerkannten Gäste herzustellen. In maximaler Geschwindigkeit. Jeder Tag
Verzug sorgt für Verschwendung und Unsicherheit.
Wenn dann einer schneller wieder geht als gedacht, ohne
einen Beitrag geleistet zu haben, dann ist die Investition in ihn auch kein
Verlust. Er wird gut davon daheim berichten. Und angesichts der hohen Chance,
dass er bleibt, haben wir das Richtige getan: Wir haben Aufbauarbeit geleistet
für einen baldigen Beitrag. Wir haben Kohäsion hergestellt. Jeden Tag ein wenig
mehr.
Denn ohne Kohäsion keine Einheit. Und wenn die Kohäsion
einer Einheit sinkt durch Einflüsse von außen, dann müssen Anstrengung zu ihrer
Aufrechterhaltung und Auffrischung unternommen werden. Das ist die oberste
strategische Notwendigkeit. Alles andere ist ein Gefahr für die Einheit. Es ist
wahrhaft Lebensgefährlich, nicht sofort in Integration zu investieren.
Softwareartefakte werden fremdorganisiert. Wir als Menschen
müssen uns selbst organisieren. Die Gesetzmäßigkeiten sind jedoch dieselben:
Erfolg setzt Kohäsion voraus. Ohne Kohäsion keine Kohärenz, keine Kraft zur
Erreichung von Zielen.
Sinkt die Kohäsion durch Einmischung neuer Menschen, dann
muss dem gegengesteuert werden. Grenzziehung hilft da nur bedingt. Vor allem
muss integriert werden. Nur dann sind wir auf Dauer fähig, uns weiter mit der
Welt zu wandeln – zumindest wenn wir das Modul „Deutschland“ für erhaltenswert
befinden.
1 Kommentar:
Danke Ralf,
Du hast das Bild vom Modul schön übertragen!
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