Der Wunsch, irgendwie besser Software zu entwickeln, ist weit verbreitet. Irgendwas stört in jedem Projekt. Irgendwie hakt es in jedem Team. Viele leiden unter der Last von Legacy Code. Andere kämpfen mit Qualitätsproblemen oder unzuverlässiger Lieferung.
Zur Verbesserung der Situation lässt sich dann natürlich allerlei raten. Mehr Clean Code, konsequentere Agilität, bessere Infrastruktur, modernere Tools und Technologien usw. usf. bieten sich an. Die Wiese ist bunt und groß, von der man sich einen Strauß an Maßnahmen pflücken kann.
Der schönste Blumengruß kann jedoch keine Wirkung entfalten, wenn es an einer Vase fehlt. Dann freut sich der Empfänger – und weiß anschließend nicht recht, wohin damit.
Zunehmend scheint mir das der Fall zu sein. Organisationen kommen aus ihren Problemen nicht raus, weil es ihnen am Grundsätzlichsten fehlt, um überhaupt irgendwelche Maßnahmen umzusetzen.
Die Arbeitszeit ist nämlich gefüllt mit Tagesgeschäft, d.h. mit Dringendem, mit Zeugs, das einfach irgendwie weggeschafft werden muss.
Da ist kein Raum, um irgendetwas anderes noch unterzubringen. Da ist auch kein Raum für Fehler – jenseits derer, die ja ohnehin passieren.
Überall wird ohne Puffer gearbeitet. Die Arbeit fließt so wie Berufsverkehr zur Rush Hour: Es geht voran, aber langsam. Und wehe, es hakt irgendwo!
Platz für Neues gibt es in solcher Arbeitsweise nicht. Der vorhandene Zeitraum ist ja schon ausgefüllt.
Und so sitzt man da in seiner Misere. Es tut weh, man weiß, dass es anders sein sollte, man ist guten Willens – aber man sieht sich auch außerstande, Maßnahmen anzugehen und verlässlich umzusetzen.
Am schönsten wäre es, wenn mit Tips & Tricks alles besser würde. Nicht lange lernen oder umdenken, nur hier und da eine Kleinigkeit ändern – am besten durch Einsatz eines Tools – und schon wird aus einer verstopften Autobahn eine Rennstrecke.
Nun… dazu kann man nur sagen: dream on!
So funktioniert es nicht. Nirgends. Das bedeutet nicht, dass nicht hier und da Tips & Tricks bewirken können. Nur reichen Tips & Tricks nicht aus. Eine Organisation, die über längere Zeit Schmerzen spürt, leidet an etwas, das tiefer liegt.
Um diese tiefer liegende Ursache angehen zu können, ist mehr nötig, als hier und da kleine Tips & Tricks umzusetzen. Dafür braucht es Raum, zeitlichen Raum und womöglich sogar physischen Raum.
Das Minimum in dieser Hinsicht sieht für mich so aus:
Ja, ich glaube, weniger geht nicht. Und ich werde immer unwilliger, mit Organisationen zu arbeiten, die ihre Arbeit nicht so einteilen können.
- Reflexion, 5% bzw. 2h/Woche: Ohne Reflexion gibt es keinen Weg. Reflexion bedeutet nämlich Innehalten, d.h. einen Punkt zu bestimmen, an dem man steht und von dem aus man betrachten kann, woher man gekommen ist und wo im Verhältnis zum Ziel man sich befindet. Gibt es Abweichungen, bietet die Reflexion Chance zur Kurskorrektur. Geradlinige Veränderung zum Besseren gibt es nicht. Verbesserung insbesondere chronischer Leiden ist kein ballistischer Flug; es kann keine Maßnahme “abgeschossen” werden, die nach einiger Zeit einfach ins Ziel trifft. Das gilt auf persönlicher wie organisatorischer Ebene. 2 Stunden Reflexion pro Woche sind für mich das Minimum, um insb. in expliziten Veränderungsprozessen, den Weg zu finden. Die können sich aus persönlicher Reflexion und Reflexion im Team zusammensetzen, z.B. jeder Einzelne pro Tag 15 Minuten und das Team einmal pro Woche 45 Minuten.
- Lernen, 10% bzw. 4h/Woche: Methoden, Tools, Technologien, Konzepte sind ständig im Wandel. Wer glaubt, nebenbei durch gelegentliche Lektüre der c’t am Ball bleiben zu können, lebt in einer Illusion. Persönlicher Marktwert und die Fähigkeit von Teams nehmen ohne explizites und regelmäßiges fokussiertes Lernen ständig ab. Lernen passiert nicht nebenbei. Dafür braucht es einen speziellen Raum – und zwar innerhalb der Arbeitszeit. Mindestens 4 Stunden pro Woche scheinen mir das Minimum. Das kann ein Nachmittag sein oder zwei Mal 2 Stunden. Weniger Lernzeit en bloc jedoch bringt zu wenig Fokus. Was und wie gelernt wird, ist weniger wichtig, als dass gelernt wird. Lernen bedeutet: etwas anders machen als üblich, Spaß haben, Fehler erlauben. Es kann grundlegend gelernt werden, d.h. vom Inhalt her sehr frei, oder auch angewandt, d.h. schon mit Blick auf ein konkretes Problem. Organisationen, die im Wettbewerb stehen, können sich einen Verzicht auf kontinuierliches Lernen letztlich nicht erlauben. Wer nicht durch Lernen den state-of-the-art ständig exploriert, hat keinen “Wissenspuffer”, aus dem er Neues, Cooles, Begeisterndes schöpfen kann.
- Strategisches, 12,5% bzw. 5h/Woche: Losgelassen frisst das Tagesgeschäft, d.h. das Dringende, das Plötzliche alle Arbeitszeit. Das darf aber nicht sein, denn das Tagesgeschäft ist nicht zukunftsorientiert. Es blick nur vor die Füße und zurück. Den Blick nach vorne stellt die Strategie dar. Sie definiert, was wichtig ist. Zu jeder Zeit gibt es in dieser Hinsicht auch nur ein Wichtigstes. Das gilt für jeden Einzelnen wie Organisationen. Ich nenne das den “Highlander”, weil es nur einen geben kann, einen wichtigsten Zielpunkt, auf den man zusteuert. Ist der erreicht, dann gibt es einen neuen usw. Was der Highlander-Zielpunkt ist, in welcher Entfernung er liegt… das ist einerlei. Gewiss ist jedoch, dass er nicht erreicht wird, wenn man sich ihm nicht konsequent Schritt für Schritt nähert. Das bedeutet für mich: an jedem Tag muss dem Highlander mindestens 1 Stunde gewidmet werden. Eine Stunde konzentrierte Arbeit für das wichtigste strategische Ziel sorgt dafür, dass die Verlässlichkeit extrem steigt.
- Tagesgeschäft: Wenn Strategie, Lernen und Reflexion bedient sind, kann die restliche Arbeitszeit mit dem Tagesgeschäft gefüllt werden. Das gibt es und es wird bleiben. Aber es muss in seine Schranken verwiesen werden.
Es mag sich viel anhören, mehr als 25% der Arbeitszeit auf “so softes Zeugs” zu verwenden. Jahre der Beratungspraxis und Jahre der persönlichen Beobachtung meiner Selbstständigkeit haben mich jedoch zu der Einsicht gebracht: weniger geht nicht.
Weniger mag kurzfristig mal funktionieren. So wie man auch mal 100m sprinten kann und dabei das Atmen vergisst. Aber mittel- und langfristig ist weniger zu wenig. Wenig bedeutet Umherirren oder gar Stehenbleiben. Weniger erzeugt über kurz oder lang Schmerzen.
Das ist wie mit dem eigenen Körper: Nach einem strammen Spaziergang, ist es ok, die Beine hochzulegen. Aber wer 3 Wochen im Sessel verweilt, der entwickelt alle möglichen Probleme von Sehnenverkürzung über Muskelatrophie bis Dekubitus.
Natürlich stellt sich eine solche Arbeitszeiteinteilung nicht einfach so ein. Ein Poster auf dem Flur und eine markige Ansprache unter dem Motto “Wir wollen jetzt eine lernende Organisation werden!” sind nicht genug. Es reicht auch nicht, die Zeiträume für Reflexion, Lernen und Strategisches zuzugestehen. Das ist nur Förderung. Die ist notwendig, aber nicht hinreichend. Dazu muss Forderung kommen. Reflexion, Lernen und strategische Arbeit müssen eingefordert werden. Und das ist eine Aufgabe für das Management – sogar zunächst eine strategische.
6 Kommentare:
Die Fähigkeit zur Reflektion ist hauptsächlich eine persönliche Fähigkeit. Sie als Berater haben da sicher eine überdurchschnittliche und benötigen diese auch für Ihre Aufgaben.
Ich denke ehrlich nicht, dass man die Reflektionseigenschaft fördern kann. Diese Eigenschaft kann nur jeder selbst in sich entdecken oder eben nicht. Ich habe jeden falls (leider) noch keine sinnvolle verordnete Reflektion z.B. bei Scrum-Retrospektiven erlebt. Sie können mich da gerne korrigieren, wenn Ihre Erfahrungen andere sind.
Ich persönlich nehme mir diese Zeit einfach vom Tagesbudget, kriegt gar niemand mit, warum sollte man diese Zeit überhaupt separat ausweisen?
Es geht, so verstehe ich dass, nicht ums separat ausweisen sondern ums nehmen. In meiner Berufspraxis wird immer nur mit dem Hammer auf das Produkt gehauen, bis Feierabend und noch länger wenn es sein muss. Und gefühlt ist das auch der einzige Weg den Berg von Arbeit hinter sich zu bekommen. Aber genau da hängts raus, der Hammer wird platt, die Hände krumm und das Produkt nur beulig. Wir wollen aber eine schöne Software, dafür muss man sich die Zeit nehmen, den Hammer aus der Hand legen, den Forscherhut auf die Rübe ziehen, oder eben über das getane reflektieren. Nur so haben es unsere Vorfahren aus der Höhle geschafft.
Sehr schön geschrieben! Nur leider tendieren alle Akteure in der Software Produktion nach der Auslieferung zu vergessen, was man sich während der Klempnerei geschworen hat: nie wieder, das war jetzt das letzte mal, usw... IMHO braucht man einen festen, eingeplanten Zeitraum in dem man allen Beteiligten erklärt wo die Probleme liegen und was man anders und besser machen kann.
Wenn man diese Zeiteinteilung auf ein agiles Prozessframework wie Scrum anwenden wollen würde, wäre die Zeit für strategisches Handeln dann in Etwa mit dem Backlog Refinement abgedeckt und die Zeit für Teamreflexion in Etwa mit der Retrospektive? Dann würde hier noch fehlen die persönliche Reflexion und die Zeit fürs Ausprobieren, oder greifen die oben genannten Scrum Mechanismen zu kurz?
@Jan: Wenn Retrospektiven richtig gemacht werden, gehören sie natürlich in die Reflexionszeit.
Scrum weist in die richtige Richtung. Keine Frage. Den Rhythmus der Reflexion jedoch mit der Auslieferung von Software zu koppeln, halte ich für falsch. Aber das ist eine andere Diskussion.
In Scrum gibt es jedoch keine Lernzeit. Muss ja auch nicht. Dennoch ist sie wichtig.
Und Scum kennt kein strategisches Thema. Muss ja auch nicht.
Dem strategische Wichtigen jeden Tag garantiert Zeit einzuräumen, kann durch Scrum jedoch befördert werden. Beim Sprint Planning oder im Daily Standup könnte genau danach ja gefragt werden:
Was ist uns in diesem Sprint das Wichtigste? Worauf müssen wir täglich Zeit verwenden?
Was ist dir als einzelnem Entwickler heute das Wichtigste?
Das Wichtigste überhaupt zu bestimmen, gehört für mich auch zur Reflexion.
Ein schöner Spruch, der vor Kurzem in unserem Firmen-Wiki aufgetaucht ist: "Wir haben keine Zeit, die Säge zu schärfen, wir müssen sägen!".
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