Dienstag, 13. September 2011

Spinning – Vorschlag für den Kern jedes Vorgehensmodells

Über eine Iterationslänge von 1 Tag habe ich ja schon öfter geschrieben. Dazu stehe ich weiterhin. Allerdings ist mir aufgefallen, dass sie nicht an erster Stelle stehen sollte. Deshalb versuche ich mal eine andere Formulierung:

Im Kern von Scrum steht der Sprint von mehreren Wochen, d.h. ein fixes Auslieferungsdatum mit fixem Scope. Scrum ist damit fundamental zeitorientiert. Pro Sprint werden mehrere "Arbeitspakete" angegangen, die alle zum selben Zeitpunkt abgeliefert werden müssen.

Im Kern von Kanban steht die Warteschlange. Kanban ist damit fundamental flussorientiert. Wie lange die Ablieferung eines "Arbeitspaketes" dauert, ist egal, solange dadurch keine Verschwendung entsteht (Halden von auf Vorrat produziertem "Zeug").
Klingt irgendwie alles sinnig, oder?

Wenn wir uns das aber mal auf der Zunge zergehen lassen, dann sollte uns "im Abgang" ein bitterer Geschmack auffallen. Es fehlt nämlich etwas. Und was fehlt, ist oft schwer zu erkennen.

Es fehlt der Kundennutzen, es fehlt die Qualität. Beides steht weder bei Scrum noch bei Kanban an erster Stelle. Und nur das meine ich natürlich: Er steht nicht an erster Stelle. Er ist nicht offensichtlich.

Ich will also nicht sagen, dass Scrum und Kanban nicht an Kundennutzen oder Qualität interessiert seien. Nein, im Gegenteil. Teams, die Scrum oder Kanban oder Scrumban machen, wollen selbstverständlich Qualität herstellen. Niemandem soll der Wille zu Qualität abgesprochen werden.

Allerdings glaube ich, dass ein Qualitätsziel schwieriger als nötig (oder wünschenswert) erreicht wird, wenn es nicht an erster Stelle steht. Außerdem haben wir es sowieso schwer, ein Qualitätsziel zu erreichen; wie messen wir Qualität? Und je größer der Brocken, der in Qualität hergestellt werden soll, desto schwieriger.

Viel leichter ist es, einem Prozess zu folgen. "Haben wir X getan, so wie es der Prozess vorschreibt?" Diese Frage ist ungleich einfacher zu beantworten.

Je weiter oben auf der Prioritätenliste eines Vorgehens dann eine Handlung steht, desto eher wird sie auch ausgeführt. "Haben wir den Sprint eingehalten?", "Ist die Warteschlange übergelaufen?" - das sind die beiden ersten Fragen, die sich Scrum- bzw. Kanban-Teams stellen. In beiden kommt Qualität nicht vor.

Wie kann nun ein Vorgehen aussehen, dass Qualität an die erste Stelle setzt? Die Handlung mit höchster Priorität muss mit Qualität zu tun haben. Weitere Handlungen/Aspekte können sich dann auf Zeit oder Fluss oder sonst etwas beziehen. So wie sich weitere Handlungen/Aspekte bei Scrum und Kanban auf Qualität beziehen.

Mein Vorschlag:

1. Füge der Software den kleinsten vertretbaren Nutzen auf dem vereinbarten Qualitätsniveau hinzu.

Das sollte die zentrale, die erste Aufforderung eines Vorgehensmodells für Software sein.

Nutzen: Irgendetwas, das für den Kunden einen Wert darstellt, das ihm etwas bringt, das er beurteilen kann, um festzustellen, ob die Entwicklung auf dem richtigen Weg ist. Nutzen kann in Funktionalität bestehen oder der Erfüllung einer äußeren nicht-funktionalen Anforderungen.
Hinzufügen: Die Software soll etwas mehr Nutzen irgendeiner Art erhalten. Der Nutzenzuwachs kann in etwas mehr Funktionalität bestehen oder in etwas höherer Geschwindigkeit oder in etwas besserer Usability usw.

Kleinstmöglich: Es geht nicht darum, eine ganze User Story oder auch nur ein ganzes Feature hinzuzufügen. Nein, es geht um viel kleinere Inkremente, aus heutiger Sicht quasi unvorstellbar und schmerzhaft kleine Inkremente. Phantasie ist gefragt, Anforderungen so hauchdünn zu schneiden.

Damit meine ich natürlich nicht beliebig klein. Wie immer im Leben ist auch hier eine Balance zu finden zwischen Nutzenzuwachs und "administrativem Aufwand". Da aber alle andere Vorgehensmodelle auch nicht ohne Balance und Fingerspitzengefühl auskommen, finde ich es nicht schlimm, wenn es hier auch nötig ist.

Warum so kleine Inkremente? Ich würde ja sogar formulieren, sinnvoll kleinstmögliche Inkremente. Aber dann kommt jemand und sagt, so hauchdünne Scheiben machen ja eben für den Kunden keinen Sinn.

Darum geht es ja aber auch nicht. Selbst die in einem Scrum Sprint realisierten User Stories machen für den Kunden keinen Sinn in dem Sinne, als dass er nach dem ersten Sprint die Software produktiv einsetzen würde. Dazu sind schon ein paar mehr Sprints nötig in den meisten Fällen.

Wirklich sinnvoll ist für den Kunden nur, was ihn im Tagesgeschäft einen guten Schritt voran bringt. Am besten natürlich die Erfüllung der kompletten Anforderungen. Das ist ja aber bei keinem Vorgehensmodell möglich. Scrum liefert das nicht nach einem Sprint und Kanban nicht, wenn am Ende der Produktionskette das erste mal etwas heraustropft.

Der kleinstmögliche Nutzenzuwachs dient also nicht irgendeinem Sprung nach vorn im sofortigen produktiven Einsatz, sondern in einem _beurteilbaren_ Zuwachs. Ein Team kann viel Code in 14 Tagen schreiben - aber ob damit die Software näher an die Wunscherfüllung des Kunden kommt, kann der nicht beurteilen. Agiles Vorgehen stellt mithin den Nutzen in den Vordergrund; es wird in Durchstichen entwickelt. So auch hier.

Nutzen ist alles, dessen Qualität (d.h. Anforderungskonformität) der Kunde beurteilen kann. Nutzen hat also nicht zwingen mit GUI oder Datenbank oder Verteilung zu tun. Deshalb kann Nutzen auch in viel dünneren Scheiben und viel schneller produziert werden, als gemeinhin angenommen.

Und warum nun diesen Schritt als ersten im Vorgehensmodell? Weil er erstens auf äußere und auch innere Qualität fokussiert und zweitens schnelles Feedback ermöglicht und drittens auch noch der Grundbaustein konstanten Flusses ist. “Kleinstmöglicher Nutzen” entspricht der Forderung nach “small batch sizes”.

Qualität und Feedback vor allen anderen Gesichtspunkten. Das ist mir wichtig. Andere kommen erst danach, z.B.

2. Schritt 1 sollte am Ende des Tages abgeschlossen sein.

3. Zurück zu Schritt 1. Es können auch mehrere Nutzeninkremente (nacheinander) gem. Schritt 1 hergestellt werden, solange die Bedingung von 2 erfüllt ist

Ziel ist ein konstanter Fluss von Nutzenzuwächsen. Durch diese Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit entsteht Vertrauen in die sonst so schwer für Außenstehende greifbare Softwareentwicklung.

Das war´s. Das ist für mich der Kern des Vorgehens in der Softwareentwicklung. Und weil sich die dabei so schnell dreht, nenne ich das mal Spinning.

Wer jetzt Zeit oder Fluss weiter ins Spiel bringen möchte, der fühle sich eingeladen:
Kanban passt wunderbar zu Spinning. Nutzenzuwächse sollten nicht auf Halde geplant werden. WIP sollte limitiert werden; am besten arbeitet das Team zur Zeit immer nur an einem Nutzenzuwachs. Wenn die Herstellung des Nutzenzuwachses aus mehreren Schritten besteht, dann sollten die über Warteschlangen entkoppelt werden.

Scrum passt auch zu Spinning. Wenn wirklich, wirklich nötig, können die Nutzenzuwächse mehrerer Tage zusammengefasst dem Kunden zur Beurteilung vorgelegt werden. Der PO kann sie sich am Ende des Sprints anschauen, wenn er mag. Damit würde zwar die Chance der hohen Umdrehungszahl nicht ausgereizt, aber es wäre halt möglich. Ein Team kann Spinning einführen, auch wenn der Kunde noch nicht genauso schnell ist. (Allerdings sollte er dahin gebracht werden.)


Spinning ist also orthogonal zu anderen Vorgehensmodellen. Es kann unabhängig davon eingeführt werden, sogar im Wasserfall. Die Vorteile:
  • Voranschreiten der Codeproduktion im Sinne der Agilität durch höchste Priorität für Nutzenherstellung
  • Fokus auf Qualität durch höchste Priorität für äußere Qualität (Nutzen gem. Anforderungen) und innere Qualität (täglicher Druck auf Evolvierbarkeit durch Nutzenproduktion)
  • Chance für kürzesten Feedbackzyklus (Iterationsdauer max. 1 Tag)
  • Motivation/Zufriedenheit durch “abgeschlossenes Tagwerk”

Wann schicken Sie Ihr Projekt ins Sportstudio? :-) Mit dem Spinning können Sie sofort beginnen.

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Dienstag, 6. September 2011

Softwareevolution in Vielfalt

In einem früheren Posting habe ich über Rahmenbedingungen für die Evolution von Software nachgedacht. Den dort genannten möchte ich nun noch eine hinzufügen: die Vielfalt.

Ich glaube, dass Evolution eines Ganzen schwieriger ist, als die Evolution von Vielem, das eine Summe hat.

Das Leben auf der Erde ist nicht ein Organismus (auch wenn es die Gaia-Hypothese gibt), sondern es besteht aus unzähligen. Und es evolviert in jedem einzelnen.

Genauso ist ein Betriebssystem wie Unix oder Windows nicht “ein Ding”, sondern besteht aus Hunderten oder gar Tausenden kleinen “Dingen”, die erst in Summe das ergeben, was wir mit dem Namen “Unix” oder “Windows” betiteln.

Mein iPhone ist einerseits ein “Ding”, eine Hard-/Softwareplattform. Andererseits ist es etwas, das sich entwickelt. Die Summe einer wachsenden Zahl von Teilen, den Apps. Mein iPhone evolviert sozusagen; es passt sich meinen Bedürfnissen ständig an. Das ist ganz einfach möglich, weil es nicht monolithisch ein “Ding” ist wie mein vorheriges Handy. Die Evolvierbarkeit steckt in der Möglichkeit zur Vielfalt.

Ich kann meine Schreib-Anforderungen iterativ immer besser erfüllen, weil ich meine Schreib-Apps getrennt von den Diagramm-Apps und die wiederum getrennt von den Musik-Apps “weiterentwickeln” kann. Ich kann mit “Notizen” beginnen, zu “Nebulous” weitergehen, auf “Pen & Paper” umsatteln und schließlich bei bei “Simplenote” enden.

Die Erfüllung anderer Anforderungen, ist von dieser Weiterentwicklung nicht betroffen. Ich kann auch jederzeit meinen Fokus wechseln. Mal möchte ich beim Schreiben vorankommen, mal möchte ich die Fotonachbearbeitung verbessern.

Diese Offenheit zur Evolution eines Ganzen durch feingranulare Evolution einer Vielfalt von Summanden, halte ich für eine Voraussetzung für evolutionären Erfolg. Unix hat es in Software vorgemacht, der PC hat es in Hardware nachgemacht, das Web hat dieses Prinzip ins Extreme getrieben, das iPhone setzt wieder darauf.

Voraussetzung für eine derartige Evolution der Vielfalt ist eine Plattform. Bei Unix war es der Kernel, würde ich sagen, beim PC der Bus mit seinen Slots für die Erweiterungskarten, beim Web TCP+DNS+HTTP+HTML, beim iPhone Hardware+iOS+AppStore.

Und was bedeutet das für Ihre Anwendung?

Wenn der Kunde kommt und sagt, er wolle “eine Anwendung”, dann nehmen Sie das “eine” nicht so genau. Ihr Kunde will einen Anforderungsberg abgetragen bekommen. Klar. Aber letztlich ist ihm egal, ob das mit 1 Anwendung (lies: EXE) geschieht, solange es praktikabel und nachhaltig geschieht.

Denken Sie also nicht reflexhaft an 1 großes Fenster für die GUI, in dem sich irgendwie alles abspielt. Denn das zwingt den Code in schnell in 1 großen Kasten, in dem er leicht verklebt.

Stattdessen überlegen Sie, wie Sie die Lösung als Summe einer Vielfalt von Apps beschreiben können. Ja, ich meine App in der Linie von iPhone oder iPad Apps. Das sind kleine, sehr fokussierte Programme. Sie dienen einem überschaubaren Zweck. Ihre Usability ist zu dessen Erfüllung maximiert.

Deshalb sehen die Apps auch alle sehr unterschiedlich aus. Eine Foto-App ist ganz anders als ein Spiel und das unterscheidet sich von der Mindmap-App. Das nehmen wir ihnen nicht übel, sondern begrüßen es. Auch, dass wir auf dem iPhone nur jeweils 1 App zur Zeit sehen, stört uns meist nicht. Im Gegenteil: so fokussieren wir uns.

Ich glaube, dass wir diesen Ansatz auf unsere “Geschäftsanwendungen” übertragen sollten. Wir sollten sie zerschlagen in eine Vielfalt von Apps. Und jede dieser Apps kann separat evolvieren.

Beispiel Faktura. Landläufig würde ein Softwarehaus für die Anforderungen, die hinter dem Begriff stehen, eine Anwendung bauen. Eine EXE, die auf allen Desktops im Büro installiert wird. (Und vielleicht noch ein SQL Server auf einem Server-Rechner.) Alle Funktionen würden über ein Hauptfenster erreicht und liefen im Faktura-Prozess ab.

Jede Änderung würde dann notwendig die eine Codebasis betreffen. Unschöne Kopplungen würden bei aller Mühe immer wieder entstehen. Die Evolvierbarkeit würde schnell sinken. (Ja, dagegen kann man sich mit Prinzipien und Praktiken stemmen, doch die grundlegend monolithische Sicht auf die Anforderungen macht es schwer für sie zu greifen.)

Wie anders würde die Entwicklung verlaufen können, wenn das Projekt mit evolvierender Vielfalt angegangen würde. Dann gäbe es eine App für die Rechnungslegung, eine App für die Stammdatenpflege, eine App für den Zahlungseingang, eine App für das Mahnwesen und eine App für den Chef. Vielleicht auch noch eine App für den Import und Export. Oder noch eine App für die Gestaltung unterschiedlicher Rechnungsvorlagen.

Es gäbe nicht mehr eine große Codebasis. Es gäbe ja nicht mehr eine Anwendung, sondern viele, ein Anwendungssystem. Die könnten Codeteile gemeinsam verwenden. Aber sie wären grundsätzlich sehr deutlich getrennt. Änderungen würden dann nicht mehr zu ungewollten Kopplungen in der Codebasis führen, da sie meist nur eine App zur Zeit beträfen. An manchen Apps würde mehr geschraubt als an anderen. Apps, die später in Angriff genommen würden, könnten intern anders aufgebaut sein, als frühere Apps, weil man schon aus Fehlern gelernt hat. Überhaupt müssten Entscheidungen nicht immer für “alles” getroffen werden; keine Notwendigkeit für 1 allumfassende Datenbank, 1 allumfassendes Datenmodell, 1 alle glücklich machende Persistenztechnologie, 1 GUI-Technologie usw.

Eine App könnte ihre Daten in SQL Server speichern, die andere in MongoDb. Die eine App könnte noch mit einer WinForms-Benutzerschnittstelle versehen sein, die andere WPF benutzen. Und wenn in einer App die Unwartbarkeit erreicht sein sollte, dann könnte die ganz unabhängig von allen anderen neu gemacht werden.

Ich kann nur Vorteile in einer solchen Vielfalt erkennen. Sie eröffnet Chancen, ohne einzugrenzen.

Es gibt lediglich eine Hürde: die in unseren Köpfen. Wir müssen Anwendungen so denken wollen. Technisch spricht nichts dagegen, sondern alles dafür. Auch sollten uns die genannten Präzedenzfälle ermutigen. Wir alle lieben Plattformen, die wir stückweise erweitern, die wir evolvieren können. Warum also nicht die Vorteile feingranularer Vielfalt für unsere eigenen Projekte nutzen?

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PS: Einige Leser werden nun denken, ich würde damit vorschlagen, dass eine GUI-Shell oder ein Basisframework wichtig seien. Ohne etwas Gemeinsames unter allen Apps oder über allen Apps sei solche Vielfalt nicht zu machen. Nichts könnte mir jedoch ferner liegen. Anwendungsevolution durch eine Vielfalt an Apps hat keine Voraussetzung; nichts muss erstmal eingerichtet werden. Jede App kann unabhängig von anderen jederzeit begonnen werden. Das Betriebssystem als Plattform reicht.

PPS: Das Ganze nicht als Monolith zu sehen, sondern als Summe von vielen Teilen, sollte sich natürlich durch alle Ebenen einer Software ziehen. Die ganze Anwendung besteht aus unabhängig evolvierbaren Apps. Jede App besteht aus unabhängig evolvierbaren Bausteinen. Und diese Bausteine wiederum sind unabhängig evolvierbar. Apps sind mithin Ausdruck der Selbstähnlichkeit von Software.

Bausteine für die Softwareevolution

Wenn wir Software naturnah entwickeln wollen, also als evolvierbares System, wie sollte sie denn dann aufgebaut sein? In meinem vorherigen Artikel habe ich mir Gedanken über eher organisatorische Voraussetzungen für naturnahe Entwicklung gemacht. Diesmal will ich die technische Seite angehen. Oder besser: wieder angehen, denn vor Jahren schon hatte ich in diese Richtung spekuliert [1]. Damals waren meine Idee eher im Konzeptionellen verblieben - heute habe ich eine Vorstellung von ihrer Implementation.

Voraussetzung Selbstähnlichkeit

Ich glaube immer noch, dass Software nur wirklich gut evolvieren kann, wenn ihre Struktur selbstähnlich ist. Das heißt erstens, dass es in Software mehrere Ebenen gibt. Und zweitens bedeutet es, dass der grundlegende Aufbau aller Ebenen gleich ist.

Ich möchte diese Ebenen jedoch nicht Schicht/Layer nennen. Der Begriff ist überladen und deutet deshalb in die falsche Richtung. Stattdessen wähle ich Stratum; damit lehne ich mich an Abelson/Sussman an, die von Stratified Design sprechen.

Selbstähnlichkeit hat den Vorteil, dass Erfahrungen und Denken nicht ebenenspezifisch sind. Man kann auf einer beliebigen Ebene beginnen und sich sowohl nach oben wie nach unten vorarbeiten, ohne einen konzeptionellen Bruch zu erleiden.

Methoden sind etwas ganz anderes als Klassen, die wiederum etwas anderes sind als Assemblies, die wiederum ganz anders sind als Prozesse. Wenn wir mit diese Mitteln Software in unserem mentalen Modell repräsentieren, dann ist das kompliziert, weil immer wieder anders.

Eine Reduktion auf Klassen allein jedoch ist nicht möglich, da Klassen konzeptionell nichts enthalten außer Methoden. Klassen sind nicht schachtelbar. Sie sind dafür gedacht, Zustand und Funktionalität zusammenzufassen. Das war´s. [2]

Selbstähnlichkeit ist für mich die Voraussetzung, dass Systeme sich entwickeln können. Sie können in der Breite wachsen (innerhalb einer Ebene) oder sie können nach oben wachsen (Abstraktion, Aggregation) oder sie können nach unten wachsen (Verfeinerung, Spezialisierung).

Voraussetzung Unabhängigkeit

Dann glaube ich, dass die Bausteine in den Strata einer Software, unabhängig von einander sein sollten. Abhängigkeiten – statische wie dynamische – sind der Anfang allen Unwartbarkeitsübels. Dependency Injection zum Zwecke der Bereitstellung von Dienstleistungen ist keine Lösung, sondern perpetuiert das fundamentale Problem.

In der Natur finden sich keine Dienstleistungsabhängigkeiten in der Form, wie sie in Software allerorten existieren. Keinem Organismus wird eine Abhängigkeit injiziert. (Nur Parasiten injizieren sich – wir denken an Sacculina, Juwelwespe oder Ridley Scotts Alien.) Organismen brauchen einander, aber nicht in Form von “Referenzen” oder “Handles”. Sie sind vielmehr auf ihre jeweils autonom hergestellten “Outputs” angewiesen. Das ist gelebte Entkopplung.

Dasselbe gilt für den Maschinenbau oder die Elektrotechnik. Einem Motor wird kein Benzintank injiziert, auch wenn er ohne den Treibstoff nicht arbeiten kann. Benzintank und Motor werden lediglich verbunden; es gibt Berührungspunkte, aber keine Abhängigkeiten.

Allemal gibt es keine so breiten Abhängigkeiten wie die durch Interfaces üblicherweise eingegangenen. Ein Motor ist nicht von einem Chassis oder einen kompletten Restauto abhängig. Er hat verschiedene Input-Kanäle, die nur irgendwie gespeist werden müssen. In einem Motorprüfstand wird deutlich, dass das auch ganz anders als mit einem Auto geschehen kann. Dasselbe gilt für einen menschlichen Körper, der ganz ohne Herz und Lunge auskommen kann, wenn an die Gefäße eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist.

Abhängigkeiten machen Systeme starr. Evolvierbarkeit setzt daher maximale Unabhängigkeit voraus.

Voraussetzung Nachrichtenorientierung

Die Verbindung zwischen Lebewesen ist immer “nachrichtenorientiert”. Wichtiger ist aber die Nachrichtenorientierung. “Daten” fließen unidirektional von einem Lebewesen zu einem anderen, gezielt oder diffus. Folgt man dem Konstruktivismus, dann ist die Welt (und damit andere Lebewesen) gar nicht direkt erfahrbar. Wir haben lediglich eine begrenzte Wahrnehmungsbreite und empfangen Signale. Die Ausgangspunkte dieser Signale selbst haben wir nie in der Hand. Wir konstruieren sie uns aus den Signalen.

Wenn das für die Evolution der Natur so zentral ist, dann scheint es mir vorteilhaft für Software, die ebenfalls hochgradig evolvieren muss. Ihre Bausteine sollten ebenfalls nur über Nachrichten kommunizieren. Das heißt, es gibt kein Call/Response, sondern nur unidirektional fließende Datenpakete. (Inwiefern die Referenzen auf den Zustand von Bausteinen enthalten können/dürfen, lasse ich hier mal dahingestellt.)

Softwarebausteine verstehen bestimmte Nachrichten, die sie von der Umwelt empfangen. Und sie senden eine bestimmte Menge von Nachrichten an ihre Umwelt. Sendung und Empfang sind in der Natur asynchron. Zwischen Softwarebausteinen würde ich Asynchronizität jedoch nicht zwingend voraussetzen.

Die Form evolvierbarer Software

Wenn ich diese Voraussetzungen zu einer Form für Softwarebausteine zusammenfasse, dann kommt das folgende Bild heraus:

image

Ich könnte diesen Softwarebaustein “Objekt” nennen, da er zustandsbehaftet ist und über Nachrichten kommuniziert. Aber “Objekt” ist so belastet, dass ich zumindest heute auf einen neutralen Begriff ausweichen möchte. Ich nenne ihn deshalb “Holon”. Das passt zur Selbstähnlichkeit; Holons sind “Dinger”, die gleichzeitig Teil und Ganzes sind.

Jedes Holon nimmt die Umgebung durch einen “Kanal” wahr und sendet über einen weiteren “Kanal” Signale an seine Umgebung, die dann andere Holons wahrnehmen können. Wahrnehmungen (Input) verarbeitet das Holon zu Zustand und/oder Signalen (Output).

Natürlich kann jedes Holon nur eine bestimmte Menge von Signalen verarbeiten und erzeugen. Signale bzw. Nachrichten bestehen daher nicht nur aus Daten, sondern haben auch noch einen Typ oder eine Bedeutung. Die Zahl 42 mag einmal die Bedeutung einer Antwort auf die ultimative Frage haben und einmal schlicht das Alter einer Person sein.

Aus Holons lassen sich nun Verarbeitungsstrukturen auf mehreren Ebenen (Strata) bilden:

image

Meine These ist, dass Software viel besser evolvierbar wird, wenn wir sie aus Holons aufgebaut denken. Die scheinen merkwürdig eingeschränkt gegenüber unseren heutigen OOP-Objekten. Ich behaupte aber mal, dass einen eventuelle Einschränkung mehr als kompensiert wird durch das, was wir bekommen. Und das wir nur bekommen, was wir wollen – viel mehr Evolvierbarkeit –, wenn wir uns einschränken.

Wir denken mit Holons nicht mehr über Abhängigkeitsverhaue nach. Wir haben einen ganz regelmäßigen Aufbau von Software von der kleinsten Codeeinheit bis zur größten. Wir können ganz natürlich Stratified Design betreiben. Und wir bekommen Bausteine, die sich von Hause aus für asynchrone/parallel Verarbeitung eignen.

Klar, das bedeutet, wir müssen unsere Denkstrukturen ändern und Gewohntes über Bord werfen. Der in Aussicht gestellte Gewinn scheint mir jedoch groß genug, um es damit zu probieren. Und so schwer ist es ja auch nicht, es auszuprobieren. Hier das universelle Interface für Holons:

interface IHolon {
  void Process(IHolonMessage input, Action<IHolonMessage> output);
}

Im Grunde reicht sogar ein Delegat, um jeden Baustein in jedem Stratum zu beschreiben:

delegate void Holon(IHolonMessage input, Action<IHolonMessage> output);

Und die Nachrichten, die zwischen den Holons fließen, sind auch ganz einfach:

interface IHolonMessage {
    string Type {get;};
    object Data {get;};
}

Kaum zu glauben, aber ich denke, dass mit solch einfachen Mitteln sich grundsätzlich alle Softwarelösungen ausdrücken lassen. [3] Diese einfachen Mittel stellen für mich das Rückgrat evolvierbarer Software dar.

PS: Wenn in der Softwareentwicklung Eleganz wirklich einen hohen Stellenwert hat, dann wage ich mal keck zu hoffen, dass eine Softwarestruktur dieser Art doch einigen Appeal hat. Ich zumindest finde sie in ihrer Einfachheit elegant.

PPS: Ich weiß, die Holons sehen aus wie Funktionseinheiten des Flow-Designs. Natürlich gibt es da auch einen Zusammenhang. An dieser Stelle überlege ich jedoch grundlegender. Deshalb haben Holons auch nur einen Eingang und einen Ausgang.

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Fußnoten

[1] s. ältere Artikel in der Rubrik “Software als System” in diesem Blog, insbesondere diesen und diesen Artikel.

[2] Das heißt nicht, Objekte seien nutzlos für evolvierbare Software. Nein, ich denke, wir müssen keine neue Programmiersprache erfinden, sondern die vorhandenen nur besser einsetzen.

[3] Natürlich meine ich damit nicht, dass Software bis hinunter zu Ausdrücken aus Holons aufgebaut werden sollte. Mir geht es um das Herunterbrechen von Funktionalität bis zu einer Granularität, dass man begründet zuversichtlich sein kann, ein Blatt-Holon mit wenigen Zeilen konventionellen Codes umsetzen zu können.

Sonntag, 4. September 2011

Voraussetzungen für sich entwickelnde Softwarestrukturen

Liegt die Zukunft der Softwarearchitektur in Emergent Architecture und Growing Software? Diese Frage wurde in zwei Open Space Gruppen auf der SoCraTes Konferenz 2011 behandelt. Das hat mir gefallen, da ich ja mit meinen Softwarezellen auch schon einmal eine naturnahe Metapher gewählt hatte.

In den Diskussionen wurde ich das Gefühl jedoch nicht los, dass wir bei allem Appeal der Metaphern noch zu wenig darüber nachgedacht hatten, was es denn wirklich heißt, naturnah Software entstehen zu lassen. Wie entwickeln sich natürliche Systeme? Was lässt sich davon auf Softwareentwicklung übertragen? Welche Voraussetzungen sind nötig?

Struktur entspricht gegenwärtiger Umwelt

Ganz zentral für naturnahe Softwareentwicklung ist, dass wir die Rolle der Umwelt richtig verstehen. In der Natur ist alles so wie es ist, weil es so am besten zur Umwelt passt. Das ist der Kerngedanke der Evolutionstheorie, würde ich sagen. Alles an allen Organismen hat einen Zweck, den es erfüllt, so wie es ist. Da ist nichts zuviel, nichts zuwenig.

Vor allem ist nicht so entwickelt wie es ist auf Vorrat. Alles ist nur einer gegenwärtigen Umwelt mit ihren über Generationen erfahrenen Schwankungen angepasst. Kein Lebewesen besitzt eine Eigenschaft nach dem Motto “Aber was wäre, wenn Umweltparameter X in der Zukunft ganz anders aussehen würde?”

Leben ist insofern “lean”, d.h. frei von “Fett”. Es gibt keine “Eigenschaftenpolster”. Selbst die Anpassungsfähigkeit ist begrenzt, obwohl sie die wichtigste Metaeigenschaft ist.

Wenn wir wirklich naturnah Software entwickeln wollen, dann müssen wir konsequent auf den Blick in die Glaskugel verzichten. Erfahrung, die uns verleitet zu sagen, “Aber ich weiß doch, dass Kunden in den meisten Fällen noch Y wollen…”, darf nicht zu Anreicherungen in der Software führen. Das höchste der Gefühle ist, dem Kunden einen solchen Gedanken vorzulegen, um durch seine Antwort die gegenwärtige Umwelt besser zu verstehen. Das oberste Prinzip naturnaher Entwicklung ist mithin YAGNI.

Jede Entscheidung darf sich nur vom gegenwärtigen Kenntnisstand leiten lassen. Dann ist die Entscheidung erstens schnell getroffen und zweitens das Ergebnis so schlank wie möglich.

Evolution ist ohne Ziel

Wenn Evolution sich nur an der gegenwärtigen Umwelt orientiert, dann bedeutet das in verschärfter Formulierung, dass Evolution kein Ziel hat. Und das bedeutet, Evolution kann nicht vorplanen. Es gibt kein Vordenken, sondern nur Reaktion, Anpassung. [1]

Das bedeutet für die Softwareentwicklung ein viel größere als bisher übliche Konzentration auf das Hier und Jetzt. Geradezu buddhistisch muss für naturnahe Entwicklung gelten “live in the now”.

Weder Strukturen noch Schritte sollten über das unmittelbar Sichtbare und Notwendige hinaus ausgelegt sein. Zu YAGNI tritt KISS als Leitprinzip.

Evolvierbarkeit ist ein Ergebnis von Evolution

Als Ergebnis der Evolution sehen wir vor allem die umweltangepassten Eigenschaften von Lebewesen. Wir haben verstanden, dass diese Eigenschaften sich durch Feedback ausprägen. “Survival of the fittest” nennen wir das. Eigenschaften entstehen und müssen sich gegenüber der Umwelt behaupten. Passen sie nicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit zur Weitergabe der Eigenschaften an die nächste Generation; unpassende Eigenschaften sterben aus. Das Feedback der Umwelt ist gnadenlos.

Auf die Software haben wir das inzwischen in Form iterativen Vorgehens übertragen. Wir stellen Software mit bestimmten Eigenschaften her, von denen wir meinen, dass sie zur Umwelt (den Anwendern) passen – und suchen dann das Feedback der Umwelt. So nähern nähern wir die Eigenschaften in kleinen Schritten der Umwelt an bzw. co-evolvieren Software mit der Umwelt.

Hinter den sichtbaren Eigenschaften evolvierender Systeme gibt es allerdings noch eine unsichtbare Eigenschaft: die Evolierbarkeit. Wie jede Eigenschaft unterliegt auch sie einem Zwang zur Passgenauigkeit.

Meinem Empfinden nach haben wir diese Eigenschaft als ebenfalls zu entwickeln nicht auf dem Zettel. Wir unterwerfen sie in unseren Projekten keinem Feedback. Wir unterwerfen sie nicht einmal branchenweit einem Entwicklungsdruck (oder allenfalls einem nur vergleichsweise schwachen).

Wenn wir über naturnahe Softwareentwicklung sprechen, ist das eine große Nachlässigkeit, da im Kern der gesuchten Naturnähe ja gerade die Evolvierbarkeit steht.

Wie müsste also das Feedback aussehen, um Evolvierbarkeit zu entwickeln?

Ob unsere Software schon performant, skalierbar, sicher genug ist, stellen wir fest, indem wir sie immer wieder auf die Probe stellen. “Los, zeig uns, wie schnell du bist!”, “Ha! Kommst du auch mit dieser größeren Nutzerlast zurecht?”, “Nimm diese Sql Injection Attacke, du Software, du!”

Aber wie ist es mit der Evolvierbarkeit? Was ist eine Herausforderung für sie?

Ich denke, das sollte auf der Hand liegen: Evolvierbarkeit wird durch unerwartete Anforderungen auf den Grill gelegt. “Pass dich dieser überraschenden Anforderung an, Code!”

Das erste, was Evolution lerne musste war die Unvorhersehbarkeit der nächsten Umweltveränderung. Von der hat sie ihre grundlegenden Bausteine, die Moleküle (DNA, RNA), Organellen und Zellen formen lassen. So existiert Leben am tiefsten Meeresgrund genauso wie im Darm und auf dem Mount Everest.

Für die Softwareentwicklung ist das noch eine Aufgabe, denke ich. Unsere grundlegenden Bausteine sind noch nicht wirklich evolutionsunterstützend. Allemal können wir noch viel zu leicht anti-evolutionäre Strukturen damit herstellen, wie die Massen an Brownfield-Code zeigen.

Das bedeutet, wir müssen mehr Druck auf die Evolvierbarkeit ausüben. Sonst hinkt ihre Entwicklung der anderer Eigenschaften hinterher – und behindert deren Evolution. Wir müssen also geradezu auf die Evolvierbarkeit zuallererst Evolutionsdruck ausüben, weil sie für alles andere fundamental ist. Wie soll das aber geschehen?

Nach meinem Gefühl ist das gar nicht schwer. Wir müssen erstens die Frequenz der Änderungsanforderungen drastisch erhöhen. Und zweitens müssen wir die Vorausschau drastisch begrenzen.

Ganz konkret bedeutet das für mich: Software ist jeden Tag mit überraschenden Änderungswünsche zu konfrontieren. Und jeden Tag ist Software auszuliefern. Nur so entsteht auf ihre Anpassungsfähigkeit soviel Druck, dass die wirklich geschmeidig wird. Das gilt für die allgemeine Form von “Softwarebauteilen” wie für die konkrete Struktur einer Lösung. Ohne diesen Druck werden wir nicht dahin kommen, die Prinzipien und Praktiken für dauerhafte Evolvierbarkeit zu erkennen und zu leben.

Evolution geht aufs Ganze

Wer hätte je einen Magen oder ein Gehirn oder eine Hand getrennt von einem Lebewesen sich entwickeln sehen?

Evolution findet immer am ganzen Organismus statt. Ein Lebewesen ist entweder als Ganzes an seinem Umwelt angepasst oder gar nicht. Das beste Herz nützt nichts, wenn das Nervensystem unangepasst ist.

Auf die Softwareentwicklung übertragen bedeutet das, es gibt keine Infrastrukturentwicklung. Jedes Mal, wenn sich Software der Umwelt aussetzt – also am Ende einer Iteration –, setzt sie sich als Ganzes aus. Sonst ist sie nicht “anschlussfähig” gegenüber ihrer Umwelt. Das muss sie aber sein, sonst bekommt sie kein Feedback. Und Mangel an Feedback bedeutet Stillstand und dann Tod.

Alle Arbeit an Software muss deshalb sagen können, inwiefern sie an die Umwelt anschließt, welches konkrete Bedürfnis der Umwelt sie erfüllt. Ein Team als Ganzes muss zu jeder Zeit auf die Software als Ganzes konzentriert sein. (Ein einzelner Entwickler kann sich im Rahmen dessen natürlich auf ein Detail fokussieren. Er dient damit ja einem Ganzen.)

Naturnahe Entwicklung bedeutet also Entwicklung in Durchstichen. In jeder Iteration ist eine ganze, besser angepasste Software abzuliefern. [2]

Evolution ist Verfeinerung

Schließlich scheint mir ein wesentliches Merkmal von natürlicher Entwicklung die Bewegung vom Groben zum Feinen. Evolution ist Differenzierung, ist Verfeinerung.

Die Entscheidung zwischen bottom-up und top-down Entwicklung können wir zur Ruhe betten. Diese beiden Pole sind unwichtig. Wir können die Herangehensweise wählen, wie wir mögen, wie es uns in Bezug auf eine Problemstellung passt.

Worüber wir aber nicht nachdenken sollten, das ist coarse-to-fine oder simple-to-complex Entwicklung. Software sollte schrittweise “schärfer” oder detaillierter werden.

Auch breadth-first vs. depth-first ist hier zweitrangig. Die Verfeinerung kann in der Breite in geringem Maß stattfinden oder in der Tiefe in hohem Maß. Wie es der Kunde mag. Er bestimmt die Prioritäten.

Nach jeder Iteration kann er sich wünschen, ob Feature A verfeinert werden soll oder lieber Feature X grob angegangen werden soll. Vor dem Hintergrund des täglichen Drucks auf die Evolvierbarkeit bedeutet das, der Kurs der Entwicklung kann sich prinzipiell jeden Tag ändern. Und warum auch nicht? Der Kunde, die Anwender: das ist die Umwelt. Der gilt es sich anzupassen.

Naturnahe Entwicklung findet deshalb in kleinsten Schritten statt. User Story, Use Case, ja selbst Feature sind dafür zu groß. Würden sie pro Iteration komplett umgesetzt, würde zu schnell zu viel Detail entstehen. Das wäre keine Evolution mehr, sondern Setzung.

Wenn es jedoch jeden Tag an quasi beliebiger Stelle in der Software ein Nutzenstückchen weiter geht, dann entsteht kontinuierliche Anpassungsfähigkeit. Dann kann auch nie mehr als die Arbeit eines Tages umsonst gewesen sein. Tägliches Feedback korrigiert ja den Evolutionsweg unmittelbar.

Fazit

Agile Softwareentwicklung ist schon ein Schritt in Richtung naturnahe Softwareentwicklung. Erreicht ist das Ziel mit ihr jedoch noch nicht. Wenn wir naturnahe Softwareentwicklung als Tugend ansehen, dann müssen wir ein paar Schrauben noch mehr anziehen. Evolution ist rigoroser als Agilität.

Fußnoten

[1] Ziellosigkeit mag merkwürdig klingen, da doch anscheinend mindestens der Kunde ein Ziel hat. Er möchte schließlich eine Software für einen bestimmten Zweck. Wie oft ist es aber der Fall, dass am Ende der Entwicklung genau das herauskommt, was am Anfang in den Anforderungen drin gestanden hat? Wie oft sind Anforderungen vollständig? Ich halte es deshalb für besser, die Idee von der Zielhaftigkeit im Sinne einer sichtbaren Zielmarke aufzugeben. Softwareentwicklung ist vielmehr ziellos – hat jedoch ein Ende. Beendet ist sie, wenn der Kunde sagt “Genug!”

[2] Mit “ganze Software” meine ich natürlich nicht, dass vom ersten Tag an eine komplette Buchhaltung oder eine ganze Textverarbeitung ausgeliefert werden soll. Wie sollte das auch gehen? Nein, “ganze Software” bedeutet, dass die Software für den Anwender als etwas sinnhaftes wahrnehmbar ist, zu dem er Feedback geben kann. Für eine Buchhaltungssoftware bedeutet das nicht mal, dass es ein GUI geben muss, sondern am ersten Tag vielleicht nur einen Prüfstand, mit dem der Anwender Feedback zum Datenimport geben kann.

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