Freitag, 9. Januar 2009

Agile Führung - Mit Soziokratie über agile Softwareentwicklung hinausgehen [OOP 2009]

Agile Softwareentwicklung ist die Antwort auf eine unvorhersehbare Umwelt. Wer ein Produkt herstellen will, dessen Anforderungen nur unvollständig bekannt sind und sich auch noch häufig ändern, der muss einfach anders vorgehen als jemand, der etwas klar Umrissenes und Stabiles produzieren soll.

Agile Vorgehensmodelle als optimale Lösungen

Im Kern der agilen Vorgehensmodelle steht deshalb "das lernende Team":

  • Agile Teams bemühen sich um Nähe zum Kunden. Sie suchen sein unmittelbares und häufiges Feedback zu ihrem Produkt, der Software.
  • Agile Teams setzen Feedback möglichst zügig und auf den Punkt um. Änderungen und Neuerungen werden unter ständiger Qualitätskontrolle implementiert.
  • Agile Teams liefern in kurzen Abständen und verlässlich immer wieder an den Kunden. Sie setzen ihr Produkt seiner Prüfung aus.

image Das "lernende Team" dreht sich also in einer nimmer endenden Schleife von Feedback - Implementation - Release. Oder allgemeiner ausgedrückt: Das "lernende Team" beobachtet seine Umwelt, es misst sie. Dann reflektiert es über diese Wahrnehmungen und passt sich bzw. sein "Modell der Umwelt" intern an. Schließlich handelt es wieder  in der Umwelt und überprüft damit die Stimmigkeit seines "Modells".

Lernen findet dabei insbesondere statt, wenn die Wahrnehmung nicht der Erwartung entspricht. Fehler sind die wahren Informationsquellen für "lernende Teams". Sie sind die "Unterschiede, die einen Unterschied machen" (Gregory Bateson).

Scrum ist hier für mich das minimalistische Vorgehensmodell in diesem Sinn. Die Lernschleife ist darin institutionalisiert. Alles dreht sich in Scrum im wahrsten Sinne des Wortes darum, das Richtige zu tun (die am höchsten priorisierten Backlog-Items implementieren), bald das Arbeitsergebnis in die Welt zu entlassen (am Ende eines kurzen Sprints) und dann Feedback über die Qualität der Arbeit einzuholen (über neue Backlog-Items).

Die zunehmende Verbreitung von Scrum gibt diesem Vorgehensmodell Recht. Es definiert mit seinen Rollen und Prinzipien eine Organisation und einen Prozess zur Bewältigung des Problems "Produktentwicklung in unvorhersehbarer Umwelt". Agile Vorgehensmodelle scheinen nach 60 Jahren Softwareentwicklung die optimale Lösung für diese konkrete Situation.

Optimale Lösungen gibt es nicht!

Für das konkrete Problem "Softwareentwicklung" ist Agilität im Allgemeinen oder Scrum im Speziellen die optimale Lösung. Zumindest im Augenblick.

Wie lange können wir aber sicher sein, dass das so ist? Wie können wir Lücken oder Unvollkommenheiten in der Anwendung eines Vorgehensmodell entdecken und korrigieren? Kann es überhaupt optimale Lösungen geben, also solche, die eben immer optimal sind? Kaum. Alle Vorschläge für ein Vorgehen bei der Softwareentwicklung sind eben nur Vorschläge. Sie definieren Ausgangspunkte für die eigene Suche nach der für die eigene Situation besten Lösung.

Und auch diese eigene Lösung ist nicht dauerhaft optimal. Optimal in einem statischen Sinn, ist nichts. Alle Vorgehensmodelle bzw. ihre Implementationen im eigenen Team sind nur vorläufig. Denn nicht nur Kundenanforderungen ändern sich ständig, sondern auch die allgemeine Situation, in der entwickelt wird. Veränderungen in der Teamgröße, neue Technologien oder Firmenfusionen können nahelegen, am aktuellen Vorgehen etwas zu ändern.

image So ist es nicht nur in der Softwareentwicklung. Die Organisation eines Unternehmens insgesamt und seiner Prozesse sind ganz allgemein gesprochen nie optimal. Sie hinken immer irgendwie der Realität hinterher. Finanzkrise, Veränderungen der Wettbewerbssituation oder des Käuferverhaltens, neue Materialien und Technologien... all das und viel mehr kann ständig eine Veränderung der Unternehmensorganisation nahelegen. Es könnte nötig sein, mehr Menschen zu beschäftigen oder weniger. Es könnte nötig sein, mehr Marketing oder weniger zu betreiben. Oder vielleicht sollten Abteilungen zusammengelegt oder getrennt werden? Wie ist es mit der Entwicklung neuer Produkte? Oder lieber das Produktportfolio verkleinern? Expandieren? Fusionieren?

Ständig lautet die allgemeine Frage in einem Unternehmen: Wie sieht die beste Organisation, wie sehen die optimalen Prozesse aus?

Die Frage von Scrum ist allerdings: Wie sieht die optimale Organisation des Produktes aus und was sollte als nächstes getan werden, um maximalen Kundennutzen zu stiften? Die Organisation des Teams hingegen ist fix. Sie wird ja durch Scrum vorgegeben.

Auf einer allgemeinen Ebene ist genau das aber anders. Bei gegebenem Unternehmenszweck - Gewinnerzielung mit bestimmten Produkten - ist die geeignete Organisation der Mitarbeiter in Bezug auf diesen Zweck nicht fix. Sie gilt es vielmehr immer wieder neu zu finden.

Lernende Organisationen

image Mit Scrum lernt ein Team, für den Kunden passende Software zu produzieren.

Wie lernt aber ein Unternehmen, die passende Organisation zur Herstellung seiner Produkte aufzubauen? Liegt die auf der Hand? Es scheint so, denn wer wüsste nicht, dass ein Unternehmen Buchhaltung, Produktion, Lager, Vertrieb, Marketing, Management, Sekretariat usw. braucht?

Das ist natürlich nicht falsch. Je nach Branche braucht ein Unternehmen diese grundsätzlichen Verantwortungsbereiche im Sinne einer Arbeitsteilung. Trotzdem ist damit nicht viel über die Organisation eines Unternehmens gesagt. Der Teufel steckt im Detail! Denn nicht dass (!) es Lager, Vertrieb, Produktion usw. gibt ist problematisch, sondern wie diese Verantwortungsbereiche miteinander kommunizieren und wiederum intern organisiert sind. Arbeiten sie direkt und reibungslos zusammen? Oder ist das Verhältnis eher kühl und bürokratisch? Gibt es lange Dienstwege, die einzuhalten sind? Findet man nur schwer Verantwortliche im Falle von Kundenbeschwerden?

Im Detail ist es eben nicht leicht, für einen Unternehmenszweck die am besten passende Organisation mit optimalen Prozessen zu finden. Und je größer das Unternehmen, je komplizierter die Produkte, je volatiler der Markt, desto schwieriger wird es.

Das ultimative Ziel jedes Unternehmens ist es nun, nachhaltig zu agieren. Es will möglichst lange leben und Gewinne einfahren. Dazu muss es effizient sein, denn nur dann stimmt die Marge. Dazu muss es aber auch flexibel sein, denn nur dann kann es unter wechselnden Anforderungen effizient produzieren.

Solche Nachhaltigkeit setzt gut passende Organisation voraus. Ein nachhaltiges Unternehmen muss daher daran interessiert sein, seine Organisation und seine Prozesse immer nah am Optimum zu haben. Genauso wie ein Scrum Team ein Interesse daran hat, seine Software nahe am Optimum der Kundenzufriedenheit zu haben. Wie kann ein Unternehmen das schaffen?

image Das Zauberwort heißt auch hier: Lernen. Das Unternehmen muss ein lernendes Unternehmen werden. Peter Senge hat dazu schon vor Jahren ein wegweisendes Buch geschrieben: "Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation" - leider bleibt es jedoch einige Antworten zur Umsetzung des Lernens schuldig.

Aber vielleicht gibt es einen ähnlich minimalistischen Ansatz für das Unternehmenslernen wie Scrum es für die Softwareentwicklung ist. Denn wo gelernt werden soll, da ist vor allem eines wichtig: die Lernschleife. Wahrnehmen, verarbeiten, handeln, wahrnehmen, verarbeiten, handeln usw. usf. nimmermüde.

Soziokratie als Organisationsevolutionsmethode

Scrum hat für mich viel Appeal in seiner grundsätzlichen Simplizität. Es verkörpert für mich die Essenz lernender Produktion. Allerdings findet das Lernen hier vor allem auf der konkreten Ebene, der Produktebene statt. In Lernschleifen soll das Produkt dem Kundenwunsch angenähert werden.

Für Unternehmen liegt das Problem hingegen im Allgemeinen und auf der Meta-Ebene. Sie sind nicht nur daran interessiert, dass ihre Teile (z.B. ein Team) lernen, sondern sie müssen als Ganzes lernen. Sie müssen lernen, aus welchen Teilen sie z.B. überhaupt bestehen sollten.

Das findet heute meist aber nur relativ dumpf oder vereinzelt statt. Eine Methode, um ein Unternehmen systematisch lernend zu gestalten, wird nicht gelehrt, wie es scheint. Wenn also Scrum in einem Softwareunternehmen zum Einsatz kommt, dann arbeitet zwar ein Team lernend - doch die Organisation drumherum ist deshalb noch lange nicht lernend aufgestellt. (Ja, auch wenn diese Organisation sich irgendwann verändert hat, indem sie Scrum einführte. Nicht systematisch lernende Organisationen leisten auch Gutes. Aber das könnte ja noch mehr werden, oder? Und in anderen Unternehmen könnte die Entwicklung zu mehr Organisationsqualität und damit Nachhaltig überhaupt ersteinmal beginnen.)

image Neulich habe ich nun einen sehr interessanten Artikel (ab Ende Jan 09 im Volltext online) in der brand eins gelesen. Dort wurde eine Methode beschrieben, die mir so minimal wie Scrum erscheint, aber eben genau das Lernen in Unternehmen systematisch erzeugt, von dem schon Peter Senge geschrieben hat. Diese Methode schien mir einerseits im Geiste von Scrum, andererseits aber dazu komplementär. Scrum ist eine Methode mit einer definierten Organisation für das operative Geschäft. Doch die in der brand eins beschriebene Methode zielt auf die Entwicklung eben solcher Organisation ab.

Die Soziokratische Kreismethode (SKM oder auch kurz Soziokratie) ist insofern eine Methode zur Unternehmensführung. Und zwar eine Unternehmensführung, die bewusst lernend stattfindet, d.h. in deren Kern eine Lernschleife aus Messen, "Leiten" und Durchführen steht.

Das hat mich sehr beeindruckt. Vor allem, weil es nicht nur eine Theorie ist, sondern in der Praxis angewandt wird. In Holland können sich Unternehmen unter soziokratischer Führung sogar von der Pflicht zum Betriebsrat befreien lassen. Soziokratie ist dort also schon länger wohlwollend sogar auf dem Radar des Gesetzgebers.

Ansonsten gibt es mehrere soziokratische Zentren, die über die Methode informieren. Das deutsche ist unter www.soziokratie.org zu erreichen. Dort gibt es auch einiges zum Thema zu lesen. Aber ich werde versuchen, das Wesentliche der SKM in einigen Blog-Artikeln hier herauszudestillieren. Ich denke, das lohnt sich, denn wie die aktuelle Finanzkrise zeigt, findet nicht nur Softwareentwicklung in einer unvorhersehbaren Umwelt statt. Die Umwelt für jedes Unternehmen ist heute so unvorhersehbar, dass es angezeigt scheint, nun endlich mit der "lernenden Organisation" Ernst zu machen. Und wenn die SKM hält, was sie verspricht, dann hat sie das Zeug dazu, für Unternehmen als Ganzes das zu werden, was Scrum für die Softwareentwicklung als Teil solchen Ganzen ist. Es geht also um nicht weniger als eine Methode der agilen Führung von Unternehmen.

2 Kommentare:

Carsten Weber hat gesagt…

Hallo,

sehr interessanter Artikel. Ich unterstütze das Konzept der Lernenden Organisation sehr.

Können Sie den erwähnten Artikel in der Brand eins noch betiteln. Der Link funktioniert leider nicht.

Vielen Dank
Carsten Weber

Ralf Westphal - One Man Think Tank hat gesagt…

Ich habe den Link zum brandeins Artikel aktualisiert.

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